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Die süßen Versuchungen

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In regelmäßigen Abständen, wenn ein Gast kommt, verfalle ich ihm. Die Variante, an die Sie vielleicht denken, wäre, die Gesundheitsgefährdung betreffend, relativ harmlos. Es ist nicht der Gast, es ist sein Geschenk. Ob rokokoig verspielt oder streng futuristisch, die Aufmachung spielt keine Rolle. Ich bin derart versiert, daß ich meist schon beim Betasten der noch verpackten Verlockung den Inhalt errate. In scheinheiliger Bescheidenheit bestreite ich die Notwendigkeit des Geschenks und verstecke die süße Versuchung hoch oben im Kasten.

Die Dauer der Standhaftigkeit schwankt zwischen zwei Stunden bis zu zwei Tagen. Dann beginnt die Tragödie einer Verführung, die noch immer mit meiner Niederlage geendet hat. Der feste Vorsatz, nur ein Stück, zum Heben des Blutzuckerspiegels, zum Abrunden des nachmittäglichen Mokkas, zur Entspannung nach einem langen Tag, wirklich nur ein kleines Stückchen zu genießen, ist immer vorhanden. Aber der Weg zur Hölle ist gepflastert ...

Allein dieses Knistern beim Entfernen des äußeren Cellophans! Wie aus einer kostbaren Schatulle leuchten die edel geformten Kleinodien. Und erst der Duft! Immer läuft es nach demselben Schema: Als erstes eine Bittertrüffel. Nur die Decke mit den Zähnen heben Pause - dann die Zungenspitze genüßlich in die cremige Fülle wühlen - Pause - zuletzt den Boden langsam schmelzen lassen — ahh.

Jetzt wäre der Moment für Zucht und Ordnung! Manchmal kommt es auch dazu, daß ich den Deckel sanft und dankbar schließe, aber fragen Sie nicht für wie lange. Da war doch noch das Nougatmarzipan, und dann noch diese Wein-brandnüßchen ... Ganz schlimm ist es beim Schreiben oder Lesen. Da ergänzen sich Gaumen und Hirn kongenial, die tastende Hand wird eigendynamisch. Solang, bis sie ins Leere raschelt. Dann kommt die Scham: Anderswo hungern die Menschen, kennen Kinder keine Süßigkeiten. Und dann kommen die Ausreden: Andere teeren ihre Lungen, ersäufen die Leber.

Circulus vitiosus: Schuld und Sühne contra dolce vita?

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