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Die venezianische Calle

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Die Calle ist eng. Die im Winkel zu ihr noch enger. Ein Regenschirm, ausgespannt, ist nicht unterzubringen. Aber zwei Menschen, einander entgegnend -nicht jeder bringt sich kollisionslos unter. Die sich unterbringen sind die, welche sich fortbringen. Die Calle sondert sie von jenen

anderen, welche die Mauer entlangschleifen, schattenflach.

Das Seicento, die stubenkleine Schenke auf der Insel, das knapp getretene Gras vor und unter den rohen Tischen und Bänken, Katze und Junghahn, die beiden sem-melfarbenen Hunde, einem Spitz verwandt der eine, herkunftslos der andere, Sciroccohimmel, Wolkenzug, nachmittäglich eingeschwärzt nahe erlahmter Sonne —

Ich hatte drinnen gegessen, die Bohnensuppe und den Tintenfisch und das laue Gemüse, aber dieser Scirocco und sein Raum aus Nachahmung geschwächter

Sommerstunden haben mir den Schritt gebunden, ich bin sitzen geblieben unter erleuchtetem Weinlaub, weilend verweilend: an diesem Nachmittag ist es mir zugestoßen, wie anschaubar Zeit mit einem Male wird, hält man diese beiden Wörter nahe an einander und sich selber vor Mut und Gesichtssinn.

Der Weg nach Hause, fällt mir ein, auf dem Schiff noch fällt mir diese Abfolge von Calle und Calle und deren Winkel ein und daß ich die Mauern entlangschleifen würde und schattenflach —

Die Calle und die andere sind leer. Ich gehe, meine und die Breite der Calle nützend, erst am Ausgang, aber gewiß, mich nicht zum Mauerschatten verflacht haben zu müssen.

Die Calle ist ein Fall sozialer Probe. Ich beginne hineinzugehen, wissend, daß an dem Ende,

das ich einsehen kann, auch jemand hineingeht. Ich bin darüber irritiert, ich blättere die paar Versionen ab, wie jener und ich, oder, schlimmer, jene drei, vier und ich, einander passieren werden, ich werde schattenflach werden, sage ich mir, mein Gehen, mein Vorbeigehen wird nicht stark, nicht überzeugend genug sein, die drei, vier haben eine gerade Eile, eine junge Eile, stelle ich mit einem Blick gegen die Frühsonne fest, und also weiß ich, daß ihrem raschen, raumverbrauchenden Gehen ich nicht gewachsen sein werde, und tatsächlich, die drei, vier behalten ihre Eile und ihr Volumen, meine Herren, möchte ich sagen, wie ist es um Ihre Toleranz bestellt, Sie können doch den, der Ihnen jetzt begegnet, nicht zum Schatten an diesem Schattenverputz verdünnen... Es ist mit der Uhr nicht ver-

ständlich zu machen, wie lange es braucht, bis die drei, vier einem begegnen, die Entscheidung für oder gegen den Mauerschatten fällt, von der Wahrnehmung der drei oder vier bis dahin —

Ich weiß, daß Humanität etwas mit Menschen und Schatten und zurückgesetzten Menschenschatten zu tun hat,

und ich weiß, daß Begegnungen etwas mit Alter zu tun haben

und mit Duldung.

Die Calle ist ein Ort aus Schatten und Alter und Duldung. An einander vorbei, begünstigt vom Schattenvorteil, denke ich, davon sind geradehin Eilende ausgeschlossen, an ein Ziel, an Ziele glaubend, ist man von Schatten ausgeschlossen.

Nur in Schatten hat die Calle Lichtverwendung.

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