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Die Welt des Menschenfreunds

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Schon aus dem Einleitungsreferat wurde klar: Hermann Broch ist aktuell, auch dann, wenn er sich im Buchhandel, verglichen mit den Autoren, die „in“ sind, schlecht verkauft. Paul Michael Lützeler, verdienstvoller Herausgeber der Gesamtausgabe, verstand die am 13. und 14. Oktober geführte Disputation in der österreichischen Gesellschaft für Literatur in Wien sowohl als öffentliche Auseinandersetzung zwischen Gelehrten zur Klärung wissenschaftlicher Streitfragen als auch als Feier — was dem Menschenfreund Broch wohl am ehesten entspräche.

Das zentrale Problem in Brochs Werk ist nach Lützelers Auffassung das des Wertzerfalls, das der Aufspaltung oder, wie man heute sagen würde, der Ausdifferenzierung. Die immer weiter fortschreitende Atomi-sierung von Systemeinheiten führe zu Verständigungsproblemen von System zu System und schließlich von Einzelmensch zu Einzelmensch, wenn die letzte Zer-spaltungseinheit erreicht wäre. Völlig zurecht verweist Lützeler in diesem Zusammenhang auf die Überlegungen des Systemtheoretikers Niklas Luhmann, der die Vorstellung eines beschreibbaren Gesamtsystems der Gesellschaft ablehnt.

Norbert Leser stellte den Gedanken der totalitären Demokratie heraus, ohne zu übersehen, wie mißverständlich dieser Begriff sein könne. Demokratie müsse ein steter Kampf um die Sicherung der Menschenrechte sein, eine wehrhafte Demokratie sei auch dann zu erhalten, wenn metaphysische Werte zerfallen seien. In einer Zeit der weitverbreiteten Maßstablosigkeit und Feigheit sei dies eine der größten Herausforderungen.

Die Weltsicht Brochs, dessen 100. Geburtstag am 1. November bevorsteht, ist bis heute nicht unaktuell, aber auch nicht bequemer geworden - das ergab diese Disputation. Im Unterschied zu Autoren, die in ihren Analysen die Grenzen zur Inhumanität überschritten, blieb Broch ein Menschenfreund.

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