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„Emilie du Chätelet - nur die Mätresse Voltaires!”

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Emilie du Chätelets nächstes Werk, die „Einführung in die Physik”, wurde im November 1740 anonym veröffentlicht und war von Anfang an umstritten. Sie brauchte eine auf den neuesten Stand gebrachte Einführung in die Physik für ihren Sohn. Die „Elemente” behandelten ein für diesen Zweck zu enges Feld, und der klassische französische Text von Rohault war über achtzig Jahre alt und stammte aus der Zeit vor Newton und Leibniz. Emilies Freundin und Nachbarin, Frau von Champbonin, überredete sie, heimlich ein solches Lehrbuch zu schaffen.

Die „Einführung” hielt sich getreulich an Newtons Physik, aber seine rein wissenschaftlich materialistische Philosophie vermochte die Marquise nicht ganz zu befriedigen. Ihrer Ansicht nach bedurfte die wissenschaftliche Theorie einer metaphysischen Grundlage, und diese fand sie bei Leibniz.

Im Jahr 1738 war sie soweit, die „forces vives”, die Theorie der beseelten Monaden von Conway und Leibniz, anzuerkennen, und sie beschloß, die frühen Kapitel der „Einführung” unter Berücksichtigung dieser Dimension neu zu schreiben. Sie zweifelte nie daran, daß Leibniz' Metaphysik und Newtons Physik vereinbar seien, solange sich die Folgerungen aus Newtons System auf empirische, physikajische Phänomene beschränkten. Die „Einführung” ging weiter als die Philosophien von Newton und Leibniz. Emilie du Chätelet schloß den ganzen historischen Hintergrund und die neuesten Entwicklungen in der Physik mit ein. Damit gelang es ihr zwar, praktisch die gesamte Wissenschaft und Philosophie des siebzehnten Jahrhunderts zusammenzufassen, doch zugleich beschwor sie eine Katastrophe herauf.

Des Plagiats beschuldigt...

Das Originalmanuskript der „Einführung” war schon genehmigt worden, und der Druck hatte begonnen, als Emilie du Chätelet Maupertuis nach Cirey bat, um ihr bei der Überarbeitung zu helfen. Er traf im März 1739 in Begleitung von König und Johann Bernoulli ein. König blieb dort als Mathematiklehrer für die Marquise und Voltaire und reiste im Mai mit den beiden nach Brüssel. Offizielles Lob und Anerkennung des fertiggestellten Entwurfs der „Einführung” hatten Emilie du Chätelets

Selbstbewußtsein beträchtlich gehoben. Sie verriet König, daß sie das Manuskript verfaßt hatte, und bat um seine Assistenz bei der Revision der Kapitel über die Leibnizsche Metaphysik.

König kehrte im September nach Paris zurück, enthüllte dort einerseits das Geheimnis der Marquise, behauptete unglaublicherweise aber gleichzeitig, er habe ihr das Werk diktiert. Es ist ein besonders prägnantes Beispiel für die Art, in der Männer sich wissenschaftliche Leistungen von Frauen aneignen. Emilie du Chätelet beendete in Eile die fehlenden Kapitel und appellierte an Maupertuis und die Akademie der Wissenschaften, ihrer Aussage Glauben zu schenken. Aber erst nach ihrem Tode wurde sie voll rehabilitiert.

Die Herausgabe der „Einführung” löste neue Konflikte aus. Im Februar 1741 veröffentlichte Jean Jacques Mairan, Kartesianer und Sekretär der Französischen Akademie auf Lebzeiten, eine scharfe Erwiderung auf Emilie du Chätelets Erläuterungen zu den „forces vives”, wobei er sie erneut des Plagiats bezichtigte. Die Marquise reagierte mit einem Frontalangriff in einem im gleichen Jahr in Brüssel publizierten Essay. Die Akademie der Wissenschaften, die erst vor kurzem von Descartes auf Newton übergeschwenkt war und Kontroversen fürchtete, ließ sich auf eine Newton-Leibniz-Debatte ein, engstirnige Newton-Anhänger sahen aber in Emilie du Chätelet eine Verräterin ihrer Sache.

Späte Anerkennung

Trotz Königs Behauptungen konnte niemand emsthaft leugnen, daß die „Einführung” das Werk von Emilie du Chätelet war. Voltaire konnte man es schlecht unterschieben, denn er lehnte Leibniz offiziell ab.

Es war eine seriöse wissenschaftliche Arbeit, die erheblich zur Stärkung des Rufs der Marquise beitrug. Sie brachte auch etliche ”adlige Kritiker zum Schweigen, die sich über Jahre hinweg geweigert hatten, in ihr etwas anderes als die Mätresse Voltaires zu sehen. In der Folge tauchten auch jüngere Wissenschaftler in Cirey auf, um bei ihr zu studieren. Die eifrige Schülerin war zur Lehrerin geworden, und die Intellektuellen Europas mußten sich fortan emsthaft mit ihr auseinandersetzen.

Aus: HYPATIAS TÖCHTER. Von Margaret Alic.

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