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Es ist das Wetter!

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Der Föhn ist etwas Neumodisches wie der Computer und die Soziologie. Ja, ich weiß, in der Rheinebene war er schon längst da, in gewissen Alpentälern; mir scheint, er kommt in Schillers „Wilhelm Teil“ vor, und wenn nicht, könnte er ohne weiteres dort vorkommen.

Aber bei uns, in der Mitte Mitteleuropas? Als ich ein Knabe war, da war bei uns nie die Rede vom Föhn. Obwohl es ihn entweder schon damals gegeben haben muß oder ihn auch heute nicht geben kann. Bei uns.

Dieser klar meteorologischen Logik ungeachtet, höre ich seit... seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs etwa immer wieder vom Föhn. Ihm werden auch gewisse Qualitäten des Lichts und der Fernsicht zugeschrieben: „Siehst du, die Berge sind so nah, das ist der Föhn!“

Das war damals nicht in den zwanziger Jahren. Damals gab es die Frühjahrsmüdigkeit, die Schneeluft und das bevorstehende Gewitter, in südlicheren Breiten gab es die Bora und den Sci-rocco, aber Föhn? Nein!

Jetzt hat der Föhn eine beherrschende Stellung in unserem Alltag. Er ist unentbehrlich. Man weiß, warum man so müde ist — der Föhn. Man leidet an Schlaflosigkeit — der Föhn. Oft sagt man auch, statt den Föhn zu beschuldigen: „Es ist das Wetter!“ Pedanten reden von Uberdruck oder Unterdruck.

Der Föhn ist Trost und Sündenbock. Ich glaube nicht an ihn; aber ich muß mit ihm leben. Und allmählich korrumpiert er mich. Es ist peinlich, morgens nicht rechtzeitig aufzustehen. „Faulheit“ als Diagnose tut weh. „Föhn“ ist angenehmer, weniger belastend.

„Ich weiß nicht, was ich heute hab'!“ - „Es geht allen so: der Föhn!“

Auch ich fühle mich allmählich in die Föhn-Gläubigkeit, in die Es-ist-das-Wetter-Mentalität integriert. Es war zunächst ganz oberflächlich, formelhaft, halbbewußt. Es kam gleich nach „Wie geht's?“

Aber strapazierte Äußerlichkeiten fressen sich allmählich in die Tiefe. Die Luft ist vergiftet, die Nahrung ist vergiftet, aber es ist nicht die Nahrung, es ist nicht die Luft, es ist das Wetter!

Ein Gallenkranker hat gegen seine Diät gesündigt und ist gelb wie eine Zitrone. — Es ist das Wetter!

Verursacht durch einen schadhaften Ofen, mußte einer eine Nacht nahe von einem Ofen, aus dem Schwefeldioxyd entwich, verbringen. Er konnte sich kaum aufrecht halten. — Es ist das Wetter!

Ein morscher Baum fällt um und verletzt einen Passanten schwer an der Schulter. — Es ist das Wetter!

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