TikTok und die Kulturoptimisten

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Lässt sich Kants Ethik statt in einem Buch auch durch ein TikTok-Video erklären? Skepsis ist angebracht.

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Lässt sich Kants Ethik statt in einem Buch auch durch ein TikTok-Video erklären? Skepsis ist angebracht.

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Zu viel wurde schon vom Kulturpessimismus gesprochen und geschrieben. Wir können nicht immer auf der Stelle treten. Die Rede sei nun endlich einmal von den Kulturoptimisten. Unlängst begegnete ich einem Vertreter dieser der Zukunft freudig zugewandten Spezies. Dem allgemeinen Tenor der versammelten Gruppe, die bedauerte, dass man in einer Diskussion über politische Ethik nicht vom „kategorischen Imperativ“ sprechen könne, ohne zu erklären, was das sei und woher der Begriff komme, entgegnete der Kulturoptimist: „Die jungen Leute lesen nicht mehr. Aber das macht nichts. Nach dem Lesen kommt eben etwas anderes.“

Ist der Umweg eine Abkürzung?

Ich bewunderte seinen Mut, der Zukunft ins Auge zu sehen. Und ich fragte mich und schließlich ihn, was denn dieses andere sei. Die Antwort: „Zum Beispiel TikTok-Videos.“ Ich muss mich nun auch in dieses Medium einarbeiten, denn ich bin schon gespannt darauf, die Lektüre von Kants „Kritik der praktischen Vernunft“ durch ein zwanzig Sekunden langes TikTok-Video zu ersetzen. Noch dazu, wo das Video, das ja „die Menschen dort abholt, wo sie sind“, zunächst in den ersten vier oder fünf Sekunden erklären muss, was Philosophie ist, danach, was Ethik ist, und sich erst in den letzten Sekunden der eigentlichen Frage widmen kann.

Ich frage mich, ob der Umweg über das Lesen nicht doch eine Abkürzung ist. So verlockend die Vorstellung auch ist, die Philosophiegeschichte in ein paar Minuten durch das Anschauen von Videos erledigt zu haben, so sehr habe ich Zweifel an der Nachhaltigkeit dieser videotischen Vernunft. Und was passiert, wenn in vierzig Jahren die heute Jungen die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und sagen: „Es ist ein Wahnsinn mit den jungen Leute heutzutage – sie schauen überhaupt keine TikTok-Videos mehr!“ Ich würde sagen, auch das wäre nicht schlimm. Danach kommt eben etwas anderes.

Der Autor ist Schriftsteller.

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