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Gefährliche Steigungen in unserem Leben

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Schweren Herzens hatten wir den Wagen genommen, um vom Hochtal aus die Anhöhe mit ihrem weiten Rundblick zu gewinnen. 15 Prozent Steigung — mehr, als mein Herz vertrug. Ich fuhr in niedrigem Gang, um auch den Motor zu schonen.

Da erblickten wir auf der rechten Straßenseite eine Kolonne von Radfahrern. Tiefgebückt, in den Pedalen stehend, mühten sie sich hinauf, Buben von höchstens 15 Jahren. Uns verschlug es stellvertretend den Atem. Als wir den Anführer der Gruppe erreichten, kurbelte ich das Fenster herunter und machte dem Mann schwerste Vorhaltungen: ob er denn nicht wisse, welche Schäden diese Kinder durch solche Uberanstrengung erleiden könnten?

Im gleichen Augenblick erwachte ich. Natürlich waren mir die Zusammenhänge sofort klar: ich selbst hatte als 15jähriger Radwanderer bei einer Tour quer durch Deutschland vor fünf Jahrzehnten sehr wahrscheinlich einen Herzschaden erworben, der mich nun zwang, die Steigung im Auto, statt mit den Füßen zu nehmen. Die radfahrenden Knaben hatten nur meine Rolle von damals übernommen.

Der Hausnarr meiner Heimat, Till Eulenspiegel, freute sich über jeden Berg, den er erklimmen mußte, weil er wußte, daß es nachher wieder herunter geht. Das ist eine solide Philosophie, mit der sich leben läßt.

Sie ist aber auch gefährlich, weil sie zur Selbstüberschätzung und zur Unterschätzung der Anstrengungen verführt. Steigungen lassen sich nicht vermeiden, sollen aber auch nicht mutwillig gesucht werden.

Gerade das aber ist in Mode gekommen und füllt die Annoncenseiten unserer Zeitungen. Gesucht werden fast ausnahmslos Leute, die sich vor keiner Steigung, sprich Steigerung, fürchten. Die sich zutrauen, aus dem Betrieb, der expandiert, noch mehr zu machen. Die ihr Gehalt selbst bestimmen, indem sie alle ihre Kräfte steigern, um schneller als die anderen jede Steigung zu bezwingen — und denen dann, nur ein paar Seiten weiter in der gleichen Zeitung oft genug der Nachruf gilt: mitten aus unermüdlichem Schaffen abberufen.

Ich glaube nicht, daß da einer gerufen hat. Ich meine, wir überhören eher einen Ruf — den zu uns und den unsrigen, zu einem erfüllten und zufriedenen Leben, in dem Leistung auf gefährlichen Steigungen nicht mehr o berste Richtschnur isL

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