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Humanismus als Delikt

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Ein Buch machte Furore, wurde in großen deutschen Zeitungen seiten-ang behandelt, in Fortsetzungen /orabgedruckt. kein Geringerer als 3Ö11 schrieb das Nachwort. Der \nlaß rechtfertigte den Widerhall. Zum ersten Mal hatte ein sowjetischer Autor aus seiner Perspektive, ,von der anderen Seite“, geschillert, wie die Rote Armee 1945 in Ostpreußen gehaust hat.

Der sowjetische Offizier und überzeugte Kommunist Lew Kopelew, dessen Lebenserinnerungen unter lern Titel „Aufbewahren für alle Seit“ (so lautete unter Stalin der Stempel auf allen Gerichtsakten über „Staatsverbrechen“) in deutscher Sprache bei Hoffmann und Ilampe erschienen, hielt Mord und Plünderung für unvereinbar mit dem Shrenkodex eines sowjetischen Soldaten und bezahlte für diesen Irrtum nit einem Leben in Zuchthäusern and Arbeitslagern. Der harte Kern dieses Buches ist die Erkenntnis, daß iich nicht nur die Besetzung Ost-ieutschlands durch die Sowjettruppen so abgespielt hat, wie sie von ler antisowjetischen Propaganda mmer dargestellt wurde, sondern laß ein Offizier von untadeliger Linientreue, der sich dem bestialischen Wüten entgegenzustellen wagte, wegen „Mitleid mit den Deutschen“, „kleinbürgerlichem Humanismus“ und ähnlichen wahnwitzigen Anklagepunkten verurteilt, freigesprochen, dann aber noch einmal und endgültig verurteilt wurde. Dos war die Realität des Stalinismus, mit dessen Rehabilitierung andere Sowjetautoren schon wieder begonnen haben. Ein Beispiel dafür: Juri Bondarew, bei dem Stalin wieder die alte heroische Gipsbüste geworden ist. Sein Dpus „Heißer Schnee“ wurde in der DDR übersetzt, der freigelassene Kopelew aber, weil er sich für verfolgte Kollegen einsetzte, schon 1968 erneut aus der Partei ausgeschlossen und von seinem Posten verjagt.

Kopelew ist ein außerordentlich genauer Beobachter und Schilderer, und seine Registratur der ostpreußischen Greuel stellenweise kaum zu srtragen. Was aber am meisten zu denken gibt, ist die Verzögerung seines Erkenntnisprozesses. Noch nach vielen Monaten der Haft und im Besitz aller dort gemachten Erfahrungen und dort empfangenen Informationen ist er im Prinzip regimetreu, ja im Grunde kritiklos. Bedeutet es ein Maximum ah Ehrlichkeit, oder

einen verzweifelten Versuch, doch noch einmal Anschluß an die Gesellschaft, in der er lebt, zu gewinnen, wenn er schildert, wie er, vorübergehend aus der Haft entlassen,

Plakate mit den Lebensläufen von Kandidaten (Wahlen stehen bevor) an den Wänden sieht und sich daran erinnert, „daß ich sofort überzeugt war: das ist ein prachtvoller Mensch“. Noch immer hielt er damals, 1947, den im Stalinismus ins Kraut schießenden Antisemitismus und andere Erscheinungen dieser Art für „Folgen objektiver Ursachen“, und auch sein Vater ist „un-

Das Buch „Aufbewahren für alle Zeit“ von Kopelew ist, unter anderem, auch das Protokoll eines langsamen, mühsamen Loslösungsprozesses eines betrogenen Idealisten von seinen Idealen. Es zeigt uns, wie ungemein schwierig es ist, nicht nur mit spontanen Handlungen, und seien sie noch so riskant, sondern mit seinem Denken gegen den Strom zu schwimmen, wenn dieser so mächtig ist wie der sowjetische Konsensus allgemeiner Anpassung.

AUFBEWAHREN FÜR ALLE ZEIT! Von Lew Kopelew mit einem Nachwort von Heinrich Boll. Hoffmann und Campe, Hamburg. 618 Seiten, 14 Photos auf Kunstdruckpapier. 261,80 Schilling.

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