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Digital In Arbeit

Im rechten Winkel

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Ein rechter Winkel, also ein Winkel von neunzig Grad, ist ein richtiger Winkel.

Justus konnte mit freiem Auge erkennen, ob ein Winkel ein rechter war, er täuschte sich nie, merkte die geringste Abweichung. Er spür- te sie gleichsam mit den Augen, ohne eine Berührung. So geschah es, daß er sich in einem Raum, der eigentlich durch vier rechte Winkel begrenzt sein sollte, nicht wohl- fühlte, wenn einer der Winkel nicht genau neunzig Grad aufwies. Und das kam oft vor, wie man sich vor- stellen kann.

Als Justus auf Wohnungssuche war, mußte er immer wieder ableh- nen. Jedesmal gab er als Grund an, die Zimmer seien ihm „nicht genug recht". Diese Formulierung wun- derte die Besitzer, denn sie wären mit einem „nicht recht" auch zu- frieden gewesen, aber komische Leute kamen ihnen ja öfters unter.

Vergeblich bemühte sich Justus um eine ihm gerechte Wohnung, bis er sich entschloß, selber ein Haus zu bauen. Ein Architekt entwarf sein Haus mit exakten rechten Winkeln, auf dem Reißbrett für ihn keine Schwierigkeit. Justus warf einen Blick auf den fertigen Plan - und war begeistert. Lauter rechte Winkel nach seinem Geschmack, genau hingezeichnet, einer in den anderen passend, einander ergän- zend, nirgends auch nur die mini- malste Ungenauigkeit. Justus konn- te zufrieden sein.

Nun aber begann erst die eigent- liche Arbeit, nämlich die Suche nach einem geeigneten Baumeister. Obwohl ihm der Architekt dabei behilflich war, dauerte es lange, bis man einen Meister seines Faches gefunden hatte, der das Anliegen verstand und, was nicht weniger wichtig war, die geeigneten Leute für die richtige Ausführung zur Verfügung hatte.

Zuerst wurde der Keller beto- niert. Justus kletterte sogar zwi- schen die Schalungen, um jeden Winkel wirklich genau prüfen zu können, waagrechte wie senkrech- te. Wenn er trotz genauester Arbeit doch einmal auf geringfügige Feh- ler stieß, erklärte man ihm, daß man mit dem Verputz auch diese Unre- gelmäßigkeiten noch richten, also recht machen könne. Es bedurfte großer Überredungskunst des Bau- meisters, um Justus davon zu über- zeugen.

Endlich war der Keller fertig, Justus hatte nichts mehr auszuset- zen. Aber auch beim Rohbau der Wohnräume, und natürlich beson- ders hier, ließ die aufmerksame Kontrolle des auf rechte Winkel so bedachten Bauherrn nicht nach. Immer wieder mußte er sich vom Polier davon überzeugen lassen, daß man mit dem Verputz noch viel ausrichten könne.

Beim Einsetzen der Fenster- und Türstöcke war Justus selbstverständlich dabei, seine Angaben wurden immer wieder beim Messen mit der Wasserwaage bestätigt. Daß Justus schon vorher in der Tischlerei die Herstellung der benötigten Teile überwacht hatte, braucht nicht erst erwähnt zu werden.

Als alles vorbereitet war, begann die mühsame Arbeit des Verput- zens. Immer wieder mußten die Maurer eine neue Schicht auftra- gen, und erst, als der Raum manch- mal halb so klein wie geplant war, wurde ihnen zugesprochen, daß sie die Winkel, und somit ihre Arbeit, recht gemacht hatten. Das Haus war fertig und Justus eingezogen. Er lebte in einer Welt, in der alle Winkel recht waren, nämlich wirk- lich rechte Winkel, wer es nicht glaubte, konnte kommen und nach- messen.

Eines Morgens, als Justus vordem Waschbecken stand und in den rechteckigen Spiegel schaute, stell- te er mit Entsetzen fest, daß die rechten Winkel nicht stimmten. Keine Ecke des Spiegels war mehr recht. Zuerst dachte er, der Rah- men sei locker geworden und da- durch verrückt. Aber nachdem er ein rechtwinkeliges Dreieck geholt und nachgemessen hatte, erkannte er, daß die Winkel tatsächlich recht geblieben waren und nur er sie nicht mehr als recht erkennen konnte. Jetzt erst bemerkte er, daß auch alle anderen rechten Winkel im Raum nicht mehr recht waren. So oft er auch nachmaß, andere Meß- instrumente holte - das Ergebnis blieb immer gleich: die Winkel wa- ren recht, nur er, Justus, konnte sie nicht mehr als rechte Winkel wahr- nehmen. Verzweifelt lief er von ei- nem Raum in den anderen, immer- zu messend und mit seiner Beob- achtung vergleichend, bis das Schreckliche zur Gewißheit gewor- den war: für ihn waren die rechten Winkel nicht mehr als solche er- kennbar.

Von nun an war er nirgends ? mehr sicher, ob ein Winkel, den er sah, ein rechter war oder nicht. War der Winkel recht und er konn- te ihn nicht als recht ausnehmen, oder war der Winkel wirklich nicht recht? Justus, früher ohne Zweifel, wurde von Tag zu Tag unsicherer. Bald wurde dieser Zustand für ihn untragbar. Verzweifelt suchte er ei- nen Ausweg aus seiner unerträgli- chen Situation, bis er eines Tages bemerkte, daß er mit freiem Auge und ohne sich jemals zu täuschen feststellen konnte, ob ein Kreis rund, also in jedem Punkt seiner Linie vom Mittelpunkt genau gleich weit entfernt war. So ließ er sich ei- nen runden Turm bauen, mit run- den Fenstern, im Zentrum eine Wendeltreppe, und im runden Ba- dezimmer hing ein runder Spiegel.

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