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Kalenderbild, neu gemalt

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Er sagte, man dürfe alten Leuten nicht unterstellen, daß sie anfälliger seien für geringere Temperaturen, er kenne genügend junge Leute, die sich in Schal und dicht gewebte Stoffe hüllten und nahe der Frostgrenze einhergingen, als drohten Erfrierungen, indes der Nachbar, ein Mann jenseits der Achtzig, an Tweed, einem Sakko von Tweed, sein Genügen habe.

Nein, sagte er, das Kalenderbild weißhaariger Menschen, welche frieren, sei längst Kalendergeschichte, zumal jene, welche tatsächlich frieren müssen, da es ihnen an Geld mangelt für den Brennstoff, darauf achten, gleich den vielen einherzugehen, die nicht frieren. Die soziale Scham sei ein Randphänomen der ausgerufenen sozialen Wohlfahrt, erst dies, daß sie ausgerufen sei, zwinge die, welche nicht so wohlfahren, zu deren Anerkennung, dergestalt sie jene Scham entwickeln darüber, daß sie eben nicht wohlfahren, als seien sie persönlich dafür haftend.

Er sagte: das setze den Alten zu, dieser Umschlag des Mangels in Scham und die Auffassung, dafür persönlich verantwortlich zu sein, als ginge in Schande, wer friert.

Gleichwohl, sagte er, sei das Verhältnis zu meteorologischen Verhältnissen geringerer Temperaturen im Alter anders als noch in mittleren Jahren. Der alte Mensch sei stärker sensibilisiert für die auseinandergefaltete Natur, da er allgemein nur mit ihr Leben erfährt und somit auch sich mit ihr identifiziert. Der jüngere Mensch verhält sich vor der Natur okkupierend, der alte kontemplativ. Dem jungen hat sie Nutzwert, dem alten Anschauungswert. Jener ist neuerdings in jedem Freizeitconvenu unterschiedlich und doch uniform definiert, dieser bedarf der sich kontinuierlich darbietenden Natur.

Mutmaßlich sind in der Affinität des Alters zum Jahr und dessen Vegetationsphasen Prozesse und Verläufe geringer Bewußtseinshelligkeit wirksam. Seit es möglich geworden ist, Menschenmassen zu versetzen, sind auch die Phasen transportabel und versetzbar geworden. Anstatt Möwen und Enten am Rande des gefrorenen Weihers zu füttern, exportiert man sich in Zonen eines vegetabilen Prospektes. Jede begleitende Reflexion scheint stillgelegt.

Das Alter entdeckt mittels Reisebüros die Austauschbarkeit der Klimata und jahreszeitlich charakteristischen Phasen je Ort. Und damit glaubt Alter des Alters sich entheben zu können. Die Krücke stört weniger, wenn vor Augen es blüht. Schein und Lüge werden zu Sozialhilfen.

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