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Leitbild deutscher Lyrik

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Die gruppendynamische Leitbild; funktion in der modernen deutschen Lyrik übt derzeit Karl Krolow aus. Er kann wahrscheinlich selbst nichts dafür und beansprucht die Autorität gar nicht, die man ihm gibt. Der Leser, Kenner und Freund seines Werks muß feststeilen, daß Krolow derzeit keinen Kulminationspunkt formaler Meisterschaft und inhaltlicher Dichte durchschreitet. In ihm und dem Zeitgeschmack kulminieren nur die Neigung zum Beiläufigen, eine Scheu vor dem Endgültigen und Gefügten. Diese Unsicherheit, in vielen Ländern und Völkern dieser Erde durch politisches und wirtschaftliches Geschick wohlbegründet, wandelt sich im westeuropäischen Wohlstand nur allzuleicht in einen Snobismus des Provisorischen. Da .träumt und redet es sich allzu leicht vor sich hin. Nichts weiter als Leben. Schon morgen werden wir mehr wissen. Eine vorsorgliche Kopfwendung genügt, um als Überlegung zu gelten.

Weiter zur Position Krolows. Im Unverbindlichen kulminieren die literarischen und weltanschaulichen Lager, die Generationen, die Schreibund Lesarten. Krolow, das ist es, was die Konservativen an der Moderne gerade noch gelten lassen — und die Modernen an den Konservativen. Ein recht populärer Standort also, aber keineswegs beneidenswert. Noch einmal, morgen werden wir mehr wissen. Sein Ansehen wächst unterdessen bei manchen ohne sein Zutun.

Der neue Lyrikband enthält Gedichte — gerade noch — oder Texte — gerade noch nicht — der Jahre 1967 bis 1970. Reimlose, frei strukturierte Strophen. Am stärksten immer wieder die Metaphern, in denen Natur, Jahreszeit, biologisches Ereignis mit Alltag, allgemeiner Erfahrung und Bedrohung verschmelzen. Die assoziative Sicherheit Krolows ist es, die den Leser bestätigend nicken läßt. Ja, so, gar nicht anders ist es möglich. Die .Gedankenkette ist von zwingender .Logik. Das verrät den Meister.

Auf fünf Anhangseiten interpretiert Krolow sein Gedicht „Lesen“. Die .Selbstanalyse beweist, mit welcher Distanziertheit der Dichter sich selbst gegenübertreten kann. Sie beweist nicht, daß er mit der gleichen Distanziertheit auch schreibt. Er nennt sein Gedicht nicht inhaltslos, sondern arglos und unstofflich. Er .will einen Zustand festlegen. Der Tenor des „Nichts weiter als…“ .also auch hier.

Bescheidung und Gelassenheit somit im Programm. Ein ehrlicher, ein fairer Standpunkt. Nur ein wenig resignierend, ein wenig abwinkend. .Regt euch nicht auf. Wartet ab. Nichts weiter als … So einer ungestüm mehr wissen will, auf einst von Krolow Gekündetes pochend, oder von echter Angst geplagt, von Leidenschaft beflügelt, kann er an der Geduld verzweifeln. Nichts weiter als Leben? Nichts weiter als— Gedichte!

NICHTS WEITER ALS LEBEN. Neue Gedichte von Karl Krolow. Band 264 der Bibliothek Suhrkamp, .Frankfurt am Main. 115 Seiten. DM 5.80.

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