7060554-1991_34_14.jpg
Digital In Arbeit

Lesungen

Werbung
Werbung
Werbung

Marie-Constance, ehemals Literaturstudentin, nunmehr etwas gelangweilte Ehefrau eines Wissenschaftlers, beschließt, Karriere zu machen, Karriere als Vorleserin in einer französischen Kleinstadt. Dies erregt zunächst Mißtrauen, dann Aufsehen und sogar Euphorie. Denn die Vorleserin hat ein schönes Stimmorgan und weiß sich in die Werke eines Guy de Maupassant oder Charles Baudelaire durchaus hinzuversetzen. Damit verwirrt sie aber sowohl pubertierende Jünglinge als auch einen gestreßten Industriellen, aktiviert eine adelige Achtzigjährige zu neuerlichen revolutionären Umtrieben, und zuletzt laufen sogar die Honoratioren der Stadt zusammen, um sie ausgerechnet mit Marquis de Sade hören zu wollen. Madame verweigert. Ahnungsvoll bemerkt sie vorher: „Ich weiß nicht, ob unsere kleine Stadt mich lange ertragen wird."

Raymond Jeans Roman „Die Vorleserin" (von Michel Deville bereits erfolgreich verfilmt) ist tatsächlich eine flammende Liebeserklärung an die Literatur und das Lesen. Seine Hommage an die Suggestivkraft des geschriebenen und gesprochenen Wortes hat Stil. Flüssig und mit Ironie verfaßt sagt Jeans Parabel viel über die Gegenwartskultur aus. - Mit größter Unbeschwertheit wird die Verschränkung von Eros und Sprache beschworen. Der Versuch, den überkommenen Beruf einer Vorleserin neuerdings als Berufung zu aktualisieren, scheint dem Literaturprofessor aus Aix-en-Provence tatsächlich gelungen zu sein.

DIE VORLESERIN. Von Raymond Jean. Aus dem Französischen von Erika Tophoven. Schneekluth Verlag, München 1991. 231 Seiten, öS 249,60.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung