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Mei, Ändert!

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Neben mir liegt der Schlüssel, ich kann bleiben, bis ich mit dem Schreiben fertig bin. Wir haben hierfür das Fernsehen gefilmt den ganzen Tag. Während das Kamerateam von einem Saal in den anderen umzog, hatte ich Zeit, mir das anzusehen, was wir nicht filmten. Und ich stand auf einmal vor dem Anderl von Rinn. Eine Vitrine, groß wie zwei Kinder-särg', füllt er aus mit der plastischen und gemalten Geschieht' von seiner grausam-lichen Hinschlachtung.

Etliche erzböse Juden und Kaufleut' dazu sollen zur Fronleichnamszeit des Jahres 1462 die rituelle Bluttat begangen haben. Kinderdaumengroß liegt es da hingestreckt, das arme Bübl in seinem roten Röcklein und dem schneeweißen Schürzlein. Und über ihm mit erschröck-lich hochgerecktem Arm und wutgezücktem Messer steht Jud neben Jud mit türkischem Hut, und stumm rinnt das Blut.

Und so liegen sie und stehen sie seit vielen hundert Jahren und sind eine Legende und eine Tradition und eine Schand und eine Attraktion.

Ja mei, gar so arm ist's halt gewesen, das Ehepaar Simon und Maria Oxner aus Rinn, und noch viel ärmer ist die Maria gewesen, wie sie bald mit dem kleinen Anderl allein dagstanden ischt als Wittib. Und eine arg ungute Ahnung hat sie bekommen bei der Feldarbeit, wie ihr die drei blutroten Blutstropfen auf ihre Händ gfallen seyndt an dem Tag, an dem sie den Anderl zum Märtyrer gemacht haben auf dem Stein in Rinn drin.

Der Taufgöd vom Anderl, der auf das Bübl hätt aufpassen sollen, hat ihn stattdessen verkauft an die kaufleu-tischen Juden, wie die her-aufkemmen seyn übern Brenner vom Fronleichnamsmarkt zu Bozen, die unchristlichen Taschen voller christlichem Geld.

Aber selig ist er dann gesprochen worden, der Anderl, eine Kirchn ist ihm gebaut worden über seinem Gebein, und ein berühmter Wallfahrtsort ist Rinn dadurch geworden, und in der alljährlichen Fronleichnamsprozession wurden seither immer gleich zwei Kinder mitgeführt, eins in einem roten Gwandl wie dem Anderl seins war und eins in einem blauen, wie dem Simon von Trient seins, den hat auch als blutjunges Kindl anno 1412 so ein reicher Samuel als Blutopfer fürs Paschafest hinschlachten dürfen. Ja mei.

Und jetzt gibt's Bischof und Leut aus der Rinner Pfarr gar, die des alls abschaffen wolln. Die Kirchn habens uns zugsperrt. Gehn wir halt außen um. Was war der Anderl ohne seine Juden und wir ohne Anderl? Mir sein ein heiliges Land. Und schuld sein — die Radfahrer.

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