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Noch ein Gedenkjahr

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1988 ist auch für eine ganz bestimmte Gruppe von Mitbürgern ein Jahr des Gedenkens an Unheil und Unmenschlichkeit: Menschen mit Behinderung. 1938 war der Anfang vom Ende für Zehntausende behinderter Menschen, die Opfer des Nazi-Regimes wurden.

Das Schloß Hartheim in Oberösterreich - heute eine Gedenkstätte - ist stummer und dennoch beredter Zeuge des Grauens. Hartheim war eine, Ausbüdungs-stätte“ furchtbarer Art: Die Schergen der Konzentrationslager erlernten hier die Perfektion des Mordens.

Dabei, und dessen ist in diesem Jahr zu gedenken, steht die nationalsozialistische Maxime der Aussonderung und letztlich erbarmungslosen Vernichtung in der Kontinuität einer Richtung ärztlichen Denkens vom späten 19. Jahrhundert bis zum heutigen Tag, woran erst kürzlich der deutsche Reformpsychiater Klaus Dörner bei einem Symposium der deutschen Lebenshilfe über das Thema Sterilisation von Menschen mit geistiger Behinderung eindringlich erinnerte.

Die Jahre von 1933 bis 1945 waren nur der kalte, grausame Höhepunkt der Eskalation von Aussonderung über Sterilisation zur Beseitigung. Am Denken selbst hat sich wenig geändert, wie ein euphorisches Zitat aus der ansonsten liberalen Süddeutschen Zeitung über die Entwicklung der Humangenetik belegt:

„Es wird möglich sein, eine wachsende Zahl von Erbkrankheiten frühzeitig zu erkennen und die Geburt kranker Kinder zu verhindern“—im Klartext: sie abzutreiben. Die Tötung als Therapie für den Volkskörper.

Diese Geschichte hat eine brennende Gegenwart. Ihre Verkleidungen heißen heute: Abtreibung bei Behinderung, Verweigerung medizinischer Behandlung für behinderte Säuglinge und Kinder, Infantizid, Sterilisation geistig behinderter Menschen, die Verwendung von anencephalen Neugeborenen als lebende Organbanken und neuerliche Vorschläge zur Euthanasie ausgerechnet aus dem selbstgerechten Frankreich.

Noch immer sind die Opfer der Zwangssterilisation eine der wenigen Gruppen von Menschen, denen die Anerkennung als Opfer des Nationalsozialismus versagt blieb. Und das heißt nicht weniger, als daß auch heute noch diese ungeheuerliche Anmaßung des Menschen über andere Menschen für rechtens gilt.

Zu alledem schweigt die ärztliche Standesvertretung, und mit ihnen die Vertreter von Regierungen und Körperschaften, in deren öffentlichem Besitz praktisch alle Einrichtungen des sogenannten Gesundheitswesens stehen — bezahlt mit unser aller Gelder.

1988 ist eine erstklassige Gelegenheit, zu diesen Fragen Rechenschaft abzulegen und Licht in das vornehme Halbdunkel der „medizinischen Lösung sozialer Fragen“ zu bringen.

Der Autor ist freiberuflicher Journalist und Sozialwissenschafter.

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