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Proserpinas Wiederkehr

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Es ist ein Geruch, an dem wir die Nähe des Frühlings zuerst wahrnehmen, noch lange vor seiner Ankunft. Dieser Geruch ist überall gegenwärtig, nicht nur in Wald und Feld, sondern auch in den grauen Straßen der Städte. Er ist stärker als der Gestank der Abgase, so stark, daß er unfehlbar zur Kermtnis genommen werden muß. Er setzt sich aus dem Aroma von feuchter Erde, auf der lange Schnee gelegen war und in der sich alle bittersüßen Verwesimgs-düfte des Herbstes ins Reine gewandelt haben, und dem Duft von frischer Luft zusammen, die in großer Fülle und Klarheit in die winterliche Leere einfließt.

Das Erlebnis dieses Geruches stammt aus unserer frühen Kindheit, als sich die Wahrnehmungen, weil sie noch nicht ausge-

drückt werden koimten, unauslöschlich einprägten. Deshalb gehen auch die Stadtbewohner witternd durch Gassen, wo weder von Erde, noch von duftversprechender Luft die Rede sein kaim.

Die erste Frühlingsahnung bewirkt eine Geschäftigkeit, ein neues Interesse an der unmittelbaren Umwelt. Männer verwenden ihre Freizeit zvun Waschen ihrer Autos und Putzen der Motoren, Frauen polieren die Fenster im Verlangen nach mehr Helligkeit. Die Stadtverwaltung läßt die Straßen kehren und die Parks vorbereiten. Gartenbesitzer gehen in ihre Gärten, obwohl es dort noch nichts zu tun gibt. Uberall werden Vorbereitungen getroffen wie für die Ankunft eines Gastes: Proserpina wird erwartet.

Der Mythos erzählt, daß Pluto Proserpina - durch ihren Anblick in heftiger Liebe entflammt - ent-

führte und in die Unterwelt brachte. Ihre Mutter Ceres suchte sie verzweifelt auf der ganzen Erde und in den Meeren. Nachts durcheilte sie mit brennenden Fichten in den Händen die Länder. Als sie durch die Nymphe Arethusa den Aufenthalt ihrer Tochter erfuhr, beschwor sie Zeus, den Raub zu bestrafen und ihr das Kind wiederzugeben.

Aber Zeus bestimmte, daß Proserpina sechs Monate im Totenreich bleiben solle, denn Pluto sei als sein Bruder nicht zu gering als Gatte, und sein Frevel sei verzeihlich, weil aus Liebe geschehen. Die anderen sechs Monate solle sie bei ihrer Mutter sein. So wurde Proserpina zur Göttin zweier Reiche. Mit ihrer Ankunft beginnt alles zu blühen, mit ihrem Abschied wird es grau und kalt.

Mythen sind Geschichten der Seele. „Der Raub der Proserpina"

ist die Geschichte von der Bipola-rität des Menschen und seiner Welt: Tod und Leben, Abschied und Wiederkehr, Trauer und Freude. Die Bipolarität setzt ein Gleichgewicht voraus, eine Kraft, die sie in Schwebe hält.

Proserpina kommt mit Veilchen und Narzissen, mit Amsel, Drossel, Fink und Star. Aber in den letzten Jahrzehnten wurde ihr Gefolge immer kleiner. So manche Blume und so manches Tier kehrten nicht wieder aus der Unterwelt zurück. Pluto wurde stärker als Ceres. Die Gegensätze sind nicht mehr im Gleichgewicht.

Die Freude über die Ankimft des Frühlings liegt uns im Blut. Aber es ist keine reine Freude mehr; sie ist von Sorge beschwert. Wenn Proserpina nicht wiederkommt, wird Ceres vor Schmerz die Erde verderben lassen.

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