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Racheengel Beate

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Es ist einmalig in der Fünften Republik, daß der Staatschef in eine Kriminalaffäre eingreift, um die Auslieferung eines Verbrechers durch einen persönlichen Brief an ein fremdes Staatsoberhaupt zu erzwingen. Selbst der Ministerrat vom 16. Februar 1972 setzte auf seine Tagesordnung den Fall eines Gestapo-Chefs, der während der Jahre 1943 und 1944 sein blutiges Unwesen in der Stadt Lyon getrieben hatte. Neben den Steuerproblemen rund um den Ministerpräsidenten Chaban-Delmas beschäftigt nichts die Öffentlichkeit gegenwärtig so stark wie das Schicksal eines bolivianischen Großkaufmannes deutscher Abstammung namens Klaus Altmann, dessen Identität mit dem Chef der geheimen Staatspolizei in Lyon, Klaus Barbie, fest untermauert wurde.

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Es ist einmalig in der Fünften Republik, daß der Staatschef in eine Kriminalaffäre eingreift, um die Auslieferung eines Verbrechers durch einen persönlichen Brief an ein fremdes Staatsoberhaupt zu erzwingen. Selbst der Ministerrat vom 16. Februar 1972 setzte auf seine Tagesordnung den Fall eines Gestapo-Chefs, der während der Jahre 1943 und 1944 sein blutiges Unwesen in der Stadt Lyon getrieben hatte. Neben den Steuerproblemen rund um den Ministerpräsidenten Chaban-Delmas beschäftigt nichts die Öffentlichkeit gegenwärtig so stark wie das Schicksal eines bolivianischen Großkaufmannes deutscher Abstammung namens Klaus Altmann, dessen Identität mit dem Chef der geheimen Staatspolizei in Lyon, Klaus Barbie, fest untermauert wurde.

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Die Erinnerung an die Besatzung, der harte Druck der SS-Truppen, die grausamen Methoden, mit denen die Resistance bekämpft wurde, haben zumindest in der älteren Generation des Landes nachhaltige und tiefe Spuren hinterlassen. Es mag verwunderlich sein, daß so gut wie nirgends Haß gegenüber dem deutschen Volke existiert, im Gegensatz zu den Gefühlen, die Frankreich 1918/19 bewegten. Mag der Friede auch endgültig besiegelt sein — man ist in Frankreich wenig geneigt, den Henkers- und Folterknechten zu verzeihen, die in der Pariser Rue Lauriston mit Hilfe von kriminellen Elementen Folterkammern errichteten, während die SS-Division „Das Reich“ die männlichen Bewohner des Dörfchens Oradour ausrottete. Die starken Traditionsverbände der Widerstandsbewegung begnügen sich nicht damit, den Geist der Kameradschaft zu pflegen, sie sehen ihre Aufgabe auch darin, Verantwortliche zu verfolgen, die 1940 bis 1944 jede Menschlichkeit vergaßen.

Der Leiter der Gestapo-Stelle Lyon, SS-Hauptsturmführer Klaus Barbie, hatte die Verhaftung des ersten Chefs der Resistance, Jean Moulins, 1943 veranlaßt. Drei Tage lang folterte er nuf das gräßlichste den jungen Präfekten, der einige

Tage später im Zug, welcher ihn nach Berlin transportieren sollte, wie ein Tier verendete. Klaus Barbie vermochte sich nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs in die amerikanische Zone zu retten. Dort verkaufte er sein Wissen an den US-Geheimdienst CIC, der ihn unter seine Fittiche nahm und ihm Schutz gewährte. Der Gestapo-Mann wurde 1947 und 1950 in Frankreich wegen seiner Taten (er hatte unter anderem die Deportierunig jüdischer Kinder angeordnet) zum Tode verurteilt. Dreimal verhörten ihn französische Offiziere in den Lokalen der amerikanischen Armee in Deutschland, die Amerikaner verweigerten aber die Auslieferung. Die Beziehung zwischen Barbie und der CIA sind bis heute höchst undurchsichtig.

„Der Henker von Lyon“, wie er in der zeitgenössischen Literatur genannt wird, verschwand auf rätselhafte Weise 1951 aus der Bundesrepublik. Etwa zur selben Zeit etablierte sich ein Klaus Altmann in Bolivien und wies provisorische Ausweispapiere vor, die vom Internationalen Roten Kreuz in Genf ausgestellt waren. Sicher ist die Hilfe einer geheimen SS-Untergrundorganisation, die Kriegsverbrechern ermöglicht, in Südamerika Fuß zu fassen. Bekanntlich wurden gewaltige Summen vor dem Ende des Tausendjährigen Reiches in südamerikanischen Banken, Handelsgesellschaften und Produktionsstätten investiert. So gelang es dem Auschwitz-Arzt Mengele unterzutauchen. Nach Meinung informierter Pariser Kreise verbringt auch Martin Bormann geruhsame Tage irgendwo in den Urwäldern Paraguays. Von den 1026 Kriegsverbrechern, die von der französischen Justiz in Evidenz gehalten werden, leben — mit Ausnahme von zweien — alle übrigen in Peru, Bolivien und anderen Ländern des subtropischen Kontinents. Französische Korrespondenten haben in den letzten Tagen herausgefunden, daß die Hilfsorganisation für geflüchtete SS- und Gestapo-Männer von einem Deutschen namens Fritz Schwend geleitet wird, der sein Hauptquartier in Lima aufgeschlagen hat.

„Hysterikerin und Komödiantin“?

Die Jagd nach dem „Henker von Lyon“, wie das ganze Problem der Verfolgung ehemaliger nationalsozialistischer Kriegsverbrecher, wurde aber nicht von einem verbitterten Franzosen aufgerollt, sondern eine junge Frau trat mit Vehemenz auf die Bühne. Sie fühlt die Berufung eines Racheengels in sich, um, nach ihren eigenen Worten, das deutsche Volk zu entsühnen. Beate Klarsfeld ist es, die den Fall Barbie aktualisierte und seit Monaten einen Kampf gegen die Schatten der Vergangenheit führt. Beate, mit ihrem Geburtsnamen Künzel, ist 1939 in Berlin als Tochter eines protestantischen Angestellten geboren. 1960 kam sie als „Au-pair-Mädchen“ nach Paris. Sie veröffentlichte ein Buch über ihre Erfahrungen, das Aufsehen erregte. Damals lernte sie den jungen Juden Serge Klarsfeld kennen, den sie ehelichte. Ihr Schwiegervater wurde in Auschwitz vergast. Durch ihren Mann wurde sie mit den Schrecken der Konzentrationslager vertraut gemacht. Als Sekretärin des deutschfranzösischen Jugendamtes griff sie in der linksgerichteten Pariser Zeitung „Combat“ den damaligen Bundeskanzler Kiesinger wegen seiner angeblichen Nazivergangenheit an. Sie ohrfeigte 1968 den Bundeskanzler öffentlich während eines Parteikongresses der CDU in Berlin und wurde zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Die Presse der Oststaaten machte aus ihr eine Heldin des antifaschistischen Kampfes. Dies hinderte die resolute junge Frau nicht, in Warschau und Prag gegen die antisemitische Politik der dortigen kommunistischen Machthaber zu protestieren. Nun ist sie Unperson in der Tschechoslowakei und in Polen. Sie kann sich auch nicht mehr in der DDR, dem „Lande des Antifaschismus“, blicken lassen. Von dieser Seite wird sie als Hysterikerin und Komödiantin bezeichnet.

Wie Simon Wiesenthal in Wien, gründete Beate Klarsfeld gemeinsam mit ihrem Mann eine Zentrale zur Verfolgung von Kriegsverbrechern. Sie nahm führende Funktionen in verschiedenen französischen Verbänden an, die sich mit Rassenfragen und Antisemitismus beschäftigen.

Nach Ansicht Beates hätten die deutschen Justizbehörden, besonders die Münchner Staatsanwaltschaft, schnellstens geschaltet und im Fall Barbie die Unterlagen zur Verfügung gestellt. Die französischen zuständigen Stellen dagegen zeichneten sich durch hinhaltende Taktik aus, wodurch die Flucht des Gestapo-Chefs von Peru nach Bolivien ermöglicht worden sei. Die Tätigkeit der jungen Deutschen muß von der Pariser Regierung gutgeheißen werden. Manchem Franzosen ist jedoch nicht wohl dabei, da das Problem der Folter in Kriegszeiten eines jener heißen Eisen ist, das Algeriens wegen nicht gerne angepackt wird.

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