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Start mit Klassizismus

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Wenn alle Bände der neuen „Heyne-Stilkunde“ so ausfallen wie der erste, darf man dem neuen Taschenbuch-Bandwurm eine hohe Lebenserwartung zugestehen. Das Thema, der „Klassizismus“, ist ein mit Gespür gewählter Serien-Auftakt: noch nicht totgeschrieben, aber bereits ein Appell. Denn die Zahl derer, die sich, der vom Kommerz geschändeten Funktionalität müde und der als Sachlichkeit getarnten Sparsamkeit satt, wieder nach Säulen und Säulchen sehnen, wächst unaufhaltsam. Und im Zeichen der Revitalisierung alter Häuser wird auch die Taschenbuchausgabe des Klassizismus, das Biedermeier, wiederentdeckt.

Was in diesem Band aus dem Thema gemacht wurde, stimmt erst recht. Der Autor des ersten Bandes, Oswald Heder er, langjähriger Professor der Baugeschichte in München, und ein profunder Klassizismus-Kenner, kommt romantisierend verklärenden Tendenzen nicht entgegen. Seine dem Buch vorangestellte, wenige Seiten lange Analyse der Zusammenhänge zwischen politischen, sozialen und ökonomischen Prozessen einer- und Baugesinnungen anderseits am Beispiel des Klassizismus wiegt viele dickleibige Pamphlete zu diesem Thema auf. Man kann sagen: Die Darstellung ist von klassischer Klarheit.

Dieses Buch, es handelt sich um eine für den Heyne-Verlag geschriebene Originalausgabe, ist ein großartiges Alterswerk, das, etwa mit der Rom-Darstellung eines Bandinelli, die „Souveränität der Verknappung“ gemeinsam hat. Hederers enzyklopädische Beherrschung des Themas äußert sich nicht in der Breite, sondern in der Beschränkung auf das Wesentliche; kunstvolle sprachliche Durcharbeitung bringt den Reichtum an Detailinformationen mit der Intensität des Ausdruckes auf einen Nenner.

Bei Hederer wird deutlich, wieviel die moderne Architektur nicht nur der Klassik, sondern durchaus auch dem Klassizismus, der über ein Jahrhundert währenden Auseinandersetzung mit der antiken Formensprache, dem Hin und Her zwischen „klassischem“ und „romantischem“ Klassizismus, zwischen Stilreinheit und Eklektizismus, zwischen der Strenge des Kopierens und dem Drang nach freiem Spiel mit den Formen verdankt.

Der Autor läßt vieles ahnen, aber ungesagt. Er informiert nicht nur, er regt zum Denken an. Das außerordentlich reichhaltige Abbildungsmaterial enthält viel Unbekanntes, Abliegendes. Eröffnet überraschende Parallelen — kündigt sich nicht im Charlottenhof eines Friedrich Schinkel (in Potsdam) schon 1830 die Baugesinnung eines Loos an?

Zu kurz kommt meiner Ansicht in dieser Darstellung nur der skandinavische Klassizismus. Nicht wegen seiner Bedeutung in seiner Zeit, sondern deshalb, weil Finnland zum Schauplatz eines direkten Überganges vom Klassizismus zur modernen Architektur wurde. Alvar Aalto etwa erklärt die Proportionalität der finnischen Architektur aus eben-diesem direkten Sprung vom Klassizismus in die Moderne, erklärt es zum „Glücksfall für die Entwicklung der finnischen Architektur“, daß ihr „der Umweg über den Eklektizismus erspart geblieben ist“. Heute und hierzulande würde man statt Eklektizismus das Wort Historismus einsetzen; was Aalto gemeint hat, war seine Sicht einer in Europa einmaligen, direkten Entwicklungslinie von der alten bäuerlichen Holzarchitektur des Landes über den Klassizismus zur Moderne.

Stil- und Proportionsempfinden des romantischen Klassizismus und erst recht des Historismus wird in einer solchen Interpretation in Frage gestellt. Auch dafür, wie überhaupt in seinem ganzen Buch, liefert Oswald Hederer nicht fertige Meinungen, sondern alles das, was der Leser braucht, um zu einer eigenen Meinung zu gelangen. Dieses sein Taschenbuch ist nicht mehr und nicht weniger als ein Standardwerk für ganze 52,40 Schilling.

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