Das vorliegende Buch fordert den Leser zur Auseindersetzung mit dem Werk und der Persönlichkeit Anneliese Hagers, einer 1904 in Westpreußen geborenen Dichterin, heraus. Zielführende Hilfestellung erhält er dabei von den beiden Herausgeberinnen: Rita Bischof und Elisabeth Lenk. Sie informieren den Rezipienten menschlich und fachlich gekonnt über die nun in Bayern lebende Künstlerin sowie über ihre starke Verbindung zum Surrealismus.
Zwei menschliche Erlebnisebenen, die parallel verlaufen, sprechen den Leser an. Erstens eine gefühlsmäßige und zweitens die literarisch analysierende: Läßt man die Fotographie der Autorin auf der Titelseite und im Buchinneren auf sich wirken, erkennt man sofort den engen Zusammenhang zwischen dem Gesichtausdruck und der Art zu schreiben. Da ist die gleiche Sensibilität, das Traumhaft-Entrückte und Visionäre. Der Leser ist fasziniert von der Intensität der Empfindungen, die aus der Literatin herausbrechen.
„Ich reiche Dir den Nebel der Gedanken im Giftbecher der Träume." Für Hagers Dichtung gilt, daß „der Surrealismus stets von einem objektivierbaren Verhältnis zwischen Sprache und Unbewußtem ausgeht". Und genau diese Wechselwirkung spannt den Bogen zur literarisch analysierenden Erlebnisebene: Für sprachlich Aufgeschlossene stellt ihr Werk ein wahres Vergnügen dar, den Stilmitteln der kurzen surrealistischen Epoche nachzuspüren und die verschiedensten Wortspielereien beziehungsweise Prägungen zu entdecken und zu entschlüsseln. Immer wieder läßt die Fülle von Symbolen aufhorchen, die oft unvermittelt, fast schockierend, in einem Text auftauchen oder aber tief berührend innere Zustände beschreiben. Manchmal mischt sie trivial klingende Sätze mit avantgardistischen Sprachelementen und romantischen Wendungen.
Es wäre der Künstlerin zu wünschen, daß sie endlich eine Würdigung ihres Werks erfahre. Paul Celan erkannte ihre Größe.
DIE ROTE UHR UND ANDERE DICHTUNGEN. Von Anneliese Hager. Herausgegeben von Rita Bischof und Elisabeth Lenk. Arche Verlag, Zürich 1991. 211 Seiten, öS 374,40.
