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Verrat und Vergebung

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Der scheidende polnische Staatspräsident General Jaruzelski hat seine Landsleute öffentlich und feierlich um Verzeihung für das Unrecht gebeten, das er durch die Verhängung des Kriegsrechts und in dessen Gefolge begangen hat. Dieses Eingeständnis ist von seltener Größe.

Wenn man erlebt, wie überführte Politiker hierzulande und anderwärts die verfolgte Unschuld spielen und sich in weinerliches Selbstmitleid flüchten, statt ein „mea culpa" zu sprechen, hebt sich das Verhalten Jaruzelskis nicht nur rühmlich ab, es bleibt historische Spitze.

Jaruzelski Demütigung gewinnt noch an Gewicht und Substanz, wenn man - wie jetzt aus verläßlichen Quellen bekannt geworden ist - weiß, daß Jaruzelski das Odium des Verräters auf sich genommen hat, um den unmittelbar bevorstehenden Einmarsch russischer Truppen abzuwenden. Nicht nur die polnische Geschichte, die gesamte Weltgeschichte wäre anders und schlimmer verlaufen, wenn es zu dieser Invasion gekommen wäre.

Das Schicksal Jaruzelskis gemahnt an die Interpretation, die Walter Jens in einer kleinen literarisch-theologischen Studie dem „Fall Judas" der neutestamentlichen Geschichte gegeben hat. Abweichend von der geläufigen Exegese sieht Jens in Judas einen glühenden Anhänger Jesu, der im Wissen darum, daß die Heilsgeschichte erfüllt werden und einer den Verräter spielen muß, die undankbarste Rolle übernommen hat. Judas rückt damit bei Jens in die Nähe einer fiktiven Seligsprechung.

Die Deutung des Judas, wie sie Jens wagt, ist sicher anfechtbar, nichtsdestoweniger aber auf Jaruzelski anwendbar.

Auf jeden Fallaber hat das Geschehen in Polen per analogiam etwas mit Weihnachten zu tun, als das geschehen ist, was im konkreten Fall möglicherweise anklingt und nachwirkt.

Denn zu Weihnachten ist Einer mit göttlicher Vollmacht, ja als eingeborener Sohn Gottes selbst, gekommen, um der Welt, der er sich hingegeben hat, zu verzeihen und sie mit dem himmlischen Vater versöhnen zu können.

Der Menschensohn bleibt das unerreichbare und trotzdem immer wieder nachzuahmende Vorbild, in dessen Fußstapfen mitunter auch solche treten können, denen man die Nachfolge zunächst nicht anmerkt. Undauchnicht zutrauen würde.

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