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Wohin mit den Scherben?

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Der jetzt 82jährige Rudolf Henz hat sich zeitlebens in Lyrik und Prosa aus der Warte des gläubigen Christen mit dem Zeitgeist auseinandergesetzt. Er findet in erstaunlicher Frische immer wieder neue Stoffe, um seine Uberzeugung zu demonstrieren, daß das Narrenschiff des Zeitgeistes sich in seiner ganzen Absurdität nur dann wahrhaftig vorführen läßt, wenn man die Rollen vertauscht und selbst in die Haut des Narren schlüpft. Als unbestellter Hofnarr hat er sich den Freibrief ausgestellt, seine Watschen nach allen Seiten verteilen zu dürfen. Er tat dies 1976 in dem Roman „Unternehmen Leonardo“ und 1977 als Lyriker in der „Kleinen Apokalypse“; auch in seinem neuen Roman stürzt er sich in den Scherbenhaufen der Zeit.

Es ist der Scherbenhaufen innerer Zerstörung, den ein jeder abzutragen hatj und der Scherbenhaufen gotischer Glasfenster, der in einem kleinen Ort der Steiermark wohl bewahrt aus der Zerstörung des Krieges übrigblieb. Der Maler Hemmelmann, der sich selbst ironisch als akademischer Maler a. D. apostrophiert, in den letzten Kriegsjahren als Glasmaler und Fensterrestaurateur berühmt geworden, wird dreißig Jahre später an einen Ort seines damaligen Wirkens gerufen -Weißenbach am See lautet der fingierte Name - und mit der Frage konfrontiert, ob er aus den durcheinandergeratenen Scheibenresten der Kirchenruine ein neues Glasfenster religiösen Bildinhalts zusammenfügen soll.

Dieser Maler Hemmelmann mutet an wie eine Gleichnisfigur des Dichters Rudolf Henz. Der Maler folgt dem Ruf des Pfarrers Cölestin nach Weißenbach. Gesichter junger Menschen begegnen ihm dort ebenso wie Gestalten aus der Zeit vor dreißig Jahren: wie zum Beispiel der Kom-merzialrat Grimmeisen, damals Verwalter des aufgehobenen Klosters und Ortsgruppenleiter, heute ein Hotelmagnat, der durch das Projekt eines Berghotels („Sanatorium Größenwahn“, wie man im Ort sagt) Weißenbach in zwei Lager spaltet, oder wie jene Dr. Heidemarie Pollacek, die ihm einst bei den Bergungsarbeiten half und jetzt eine avantgardistische Kunstzeitschrift mit dem Titel'„Übermorgen“ in Kassel redigiert. Und auch ein progressiver Kaplan fehlt nicht in dem Reigen der Gestalten, die dem Maler Hemmelmann ihre Vorstellungen zu der Frage vortragen: Wohin mit den Scherben?

Die Kasseler Kunsthistorikerin möchte zum Beispiel den ganzen Scherbenhaufen, so wie er ist, auf der nächsten Documenta vor der Ausstellungshalle aufbauen. Und der alte Maler Hemmelmann? Er hört zu, er trägt alles Geschehen in sein Tagebuch ein, er überlegt, er grübelt, er zweifelt an sich, er versucht, den Wirrwarr der Stimmen zu ordnen, und er erkennt nur eines: das absolute Fehlen eines gemeinsamen Maßstabs. Wie aber läßt sich in einer durcheinandergeratenen Welt - im großen wie im kleinen hier in Weißenbach - Gott noch darstellen? Dies ist das bewegende Thema des Romans, dessen Handlung und Thematik sich aus den Tagebucheintragungen des alten Malers entwickelt.

WOHIN MIT DEN SCHERBEN. Von Rudolf Henz. Styria Verlag -Graz; 1979, öS 221,-.

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