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Handschrift und Existenz

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Das Buch wird Widerhall finden, sowohl in Fachkreisen wie auch bei interessierten Laien. Bei letzteren, weil es flüssig geschrieben ist, die handliche Methode der Klagesschen Bedeutungstabellen wieder aufgreift und damit die Ausdrucksfähigkeit des Lernenden schult, weniger behandelte Gebiete, wie Schreibgerät, Papier- und Tintenwahl, bespricht, vor allem aber die Schrift als Mitteilungsform eingehenden Betrachtungen unterzieht, was bis jetzt so gut wie noch gar nicht geschehen ist.

Dem Geschulten aber wird nicht engehen, daß Daim das Programm einer neuen Graphologie vorbringt. Dieser Vorstoß ist bedeutungsvoll und fruchtbar, da Klages, der trotz Korrektur seitens der Anhänger und Gegner noch das Bild der Graphologie bestimmt, in Konsequenz seiner Philosophie das ganze Ge; biet des objektiven Geistes als lebensfeindlich abgetan und beiseite geschoben hat. Daß er damit die Graphologie — und selbstredend auch schon seiner Ausdruckswissenschaft und Charakterkunde — um grundlegende Bereiche verstümmelt hat, ist jedem einleuchtend, der den Sachverhalt mit offenem Blick überschaut. So finden wir in seinen zum Teil recht umfangreichen Schriften die Probleme der Soziologie, Weltanschauungslehre, Religions- und Kulturphilosophie nur von der psychologischsubjektiven Seite und auch so nur flüchtig behandelt.

Die Vernachlässigung der Ethik aber ist am offenkundigsten und damit die am stärksten augenfälligen Auswirkungen seiner Einseitigkeit. Daim hat, indem er von der Existenzphilosophie her den Appell an die moralische Person besonders herausgestrichen hat, unmißverständlich auf diesen Mangel hingewiesen. Wenn er im Vorwort sagt, er wolle versuchen, „endlich das Gehäuse der Klagesschen Philosophie zu sprengen, um neue Luft und Aussicht zu gewinnen“, wird damit eine längst fällige Neuorientierung in der Graphologie angebahnt. Vereinzelte Vorstöße liegen bereits vor. B. Christiansen sieht die Inhaltslosigkeit des Formniveaus und widerlegt zentrale Merkmalsausdeutungen bei Klages. („Lehrbuch der Handschriftdeutung“) A. Wenzel wirft Klages vor, er gewinne mit dem ästhetischen Wertmaßstab des Formniveaus ethische Urteile („Graphologie als Wissenschaft“). R. Heiß läßt das Formniveau ebenfalls nur als ästhetisches Kriterium gelten („Deutung der Handschrift“). R. Wieser endlich führt den Begriff des Formniveaus unabsichtlich — und incredibile dictu bis heute unent-deckt — ad absurdum und kommt so zu einem fruchtbaren Gesichtspunkt. Doch nirgends findet sich eine radikale, das heißt bis an die Wurzel reichende Korrektur, da alle Einwände aus dem Gesichtskreis des Handwerklich-Graphologischen kommen. Daims Vorhaben ist aber hauptsächlich von der philosophischen Seite her gesteuert und bringt so eine grundsätzliche Neuorientierung, damit aber für die Fachleute den Ansporn, diese Grundlegung auch in der Praxis durchzuführen.

Wenn man nämlich für die Graphologie die gebührende Anerkennung in ihrem Bereich und gemäß ihrer — bis jetzt noch reichlich ungeklärten diagnostischen Tauglichkeit erhofft, rückt die Erfüllung dieser Hoffnung nur dann näher, wenn die Graphologie Anschluß gefunden hat an den heutigen Stand der Geisteswissenschaften. Solange man sich um Tiefenpsychologie, Phänomenologie, Gestaltpsychologie, Soziologie und Paläontologie, um nur die wichtigsten zu nennen, nicht kümmert, wird der Fortschritt der Graphologie auf Außenseiter angewiesen sein.

Daims Verdienst ist es, die Schwäche der bisherigen Graphologie aufgezeigt und die Neuorientierung nach einer Richtung hin entscheidend begonnen zu haben. Da er vordringlich die drängenden Probleme aufrollt, versteht sich die frische Diktion, die allerdings zuweilen bedenklich scharf wird. Dies stört aber um so weniger, je mehr man sich dem Inhalt widmet.

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