Denker als Brückenbauer

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Paul RicSur, der stille unter den großen französischen Philosophen, wurde 90 Jahre alt. Der protestantische Denker war bei den Sommergesprächen in Castelgandolfo auch Dialogpartner des Papstes.

Mitten in der nicht enden wollenden Reihe der zeitgenössischen französischen Starphilosophen findet sich ein Querdenker, der mitunter etwas stiller, aber dafür mit umso größerer Beharrlichkeit und einer unbändigen Arbeitswut sich der Hermeneutik, der Lehre des Verstehens, verschrieben hat. In seiner philosophischen Arbeit wirkte Paul RicSur über Strömungen und Ländergrenzen hinweg integrierend. Durch die Auseinandersetzung mit der deutschen Philosophie (allen voran Edmund Husserl und Martin Heidegger) und durch seine Lehrtätigkeit in den USA tat er sich als großer Brückenbauer zwischen unterschiedlichen geistesgeschichtlichen Tradition hervor.

Viele Philosophien

Viele philosophische Strömungen finden sich in RicSurs langer Publikationsliste wieder, Existenzphilosophie, Strukturalismus, Marxismus, Ideologiekritik, Phänomenologie und Sprachphilosophie werden von RicSur auf Herz und Nieren geprüft, ob sie für eine aktuelle Philosophie etwas hergeben. Das Resultat läuft allerdings nichts auf eine große Zusammenschau, etwa wie bei Hegel, hinaus, vielmehr bleiben unterschiedliche Interpretationen in einer Konkurrenzsituation nebeneinander bestehen. RicSurs Arbeit bietet eine Interpretation der Interpretation an, die Verschiedenartigkeit rechtfertigt, aber nicht alle relativistisch auf ein Niveau zusammenstutzt. Man kann keiner vor der anderen den Vorzug geben, bloß weil eine Mehrheit daran glaubt, Wahrheit und Verschiedenartigkeit bleiben gleichzeitig gewahrt.

RicSurs Werk gerät zu einer gewaltigen Zusammenschau vieler geistiger Strömungen. Das Zentrum der modernen Hermeneutik ist für RicSur nicht mehr die Frage nach wahr oder falsch, sondern die Arbeit an der Beseitigung der Illusionen, die die Wahrheit einnebeln. In Auseinandersetzung mit Sigmund Freud stellt sich ihm das falsche Cogito, das Denken, das im Willen wurzelt dar, hinter dem das narzistische Ich steht, und das den Menschen zum Scheitern bringt. Das Problem der Wahrheit ist daher ein existenzielles und liegt viel tiefer, als es Idealisten und Rationalisten darzustellen versucht haben.

RicSur stößt in der Subjektivität in eine Sphäre vor, die sich in klar definierten Begriffen nicht mehr fassen lässt; als Ausweg bietet sich ihm die dichterische Metapher an. Diese beschreibt die Mehrdeutigkeit des Symbols und macht sie so einem objektiven Denken zugänglich, ohne sie vollständig ausloten zu können. Ähnlich wie beim jüdischen Denker Emmanuel Lévinas die Ethik die Rolle der ersten Philosophie übernimmt, weist RicSur diesen Platz der Ästhetik zu.

Neben seiner Liebe zur Philosophie beschäftigten den praktizierenden Protestanten RicSur immer auch Fragestellungen zur Religion, obgleich er beide Denkbereiche für sich stets streng zu trennen wusste.

Biblisch vs. griechisch

Auch in der Frage, ob man Jerusalem oder Athen den Vorzug geben soll, zeigt sich RicSur als Vermittler. Auch hier steht wahrhafte Interpretation neben wahrhafter Interpretation und es interessiert ihn, ob man die alttestamentlichen "Sprichwörter, die Psalmen oder Hiob in Konkurrenz mit den Gründungsschriften der griechischen Kultur, Homer, Hesiod, die Dichter der Tragödie oder die Vorsokratiker lesen kann". Beide Denkrichtungen seien nicht fundamental gegensätzlich, der Gegensatz ergibt sich aus der Interpretation, wie sie von der bekennenden Theologie, der Kirche oder auch der Synagoge vorgegeben wird. Vieles von RicSur harrt noch noch der Entdeckung.

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