Wahrheit in ewigem Konflikt

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Es gibt mehrere Möglichkeiten Unsterblichkeit zu erlangen. Neben jenen, an die wir glauben, gibt es auch jene, die wir zumindest eine Zeit lang auch wissen können. Paul RicSur ist mit seinem umfangreichen, thematisch breit angelegten, dafür aber umso dichter und tiefgründiger verfassten philosophischen Werk auch diesen zweiten Weg gegangen.

RicSur wurde 1913 in Valence geboren, seine erste denkerische Auseinandersetzung führte ihn während seiner deutschen Kriegsgefangenschaft aus gegebenem Anlass zur Beschäftigung mit dem Bösen. Der ab 1948 vielbegehrte Professor an Universitäten in Frankreich, Belgien und den usa entwickelte seine eigene Hermeneutik, er beschreibt darin die historische Differenz zwischen dem Ausleger und dem Ausgelegten und fordert eine Rückbindung der Interpretation auf jene zeitgenössische Lebenswelt, in der ein Text entstanden ist. Über die Einarbeitung vor allem der angelsächsischen Philosophie entstanden seine zentralen Texte zur "lebendigen Metapher" und die dreibändige Bestimmung von "Zeit und Erzählung". In seiner letzten Phase fasste er noch einmal seine umfangreichen Studien aller wichtigen Strömungen der Philosophie der letzten 150 Jahre zu einer Ethik zusammen.

Ganz so leicht macht es uns aber RicSur mit seiner Art der Unsterblichkeit nicht. Denn was er prinzipiell über Texte schreibt, gilt selbstredend auch für sein Werk: "Es gibt keine Philosophie ohne Voraussetzung; eine Meditation über die Symbole nimmt ihren Ausgang von der Sprache, die sich schon ereignet hat und in der alles schon auf irgendeine Weise gesagt worden ist; sie will das Denken mit seinen Voraussetzungen sein. Für sie ist die erste Aufgabe nicht anzufangen, sondern sich der Mitte des Sagens zu erinnern; sich zu erinnern, um anzufangen." Wir sind nach RicSur ständig Quereinsteiger - die Wahrheiten, auf die wir uns beziehen oder die wir uns erobern, bleiben Wahrheiten in einer Konfliktsituation. Die Bedeutung eines Textes, die Bedeutung unserer Vorstellungen über Gott und die Welt bleiben unauflöslich im Plural zu denken. Damit stellt sich RicSur jedweden Versuchen, unser Denken und damit in erster Linie unser Bild vom Menschen in ein Schema zu pressen, entgegen.

Der aus einem protestantischen Elternhaus stammende Philosoph dachte immer mit großer Sympathie über religiöse Fragestellungen nach. Allerdings verwahrte er sich gegen eine geschwinde Verquickung der beiden Bereiche - und hat damit für den einen wie den anderen wertvolle Denkhilfen anzubieten. Am letzten Freitag starb Paul RicSur. Eine seiner Fragen ergeht an Gott genauso wie an die Menschen: "Wenn ein anderer nicht auf mich zählen würde, wäre ich in der Lage, mein Wort zu halten, mich im Sinne der Selbst-Ständigkeit zu erhalten?" Hartwig Bischof

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