Der erste Kirchenvolks-Begehrer

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"Wer seine Werke liest, glaubt einem Progressisten des Jahres 1969 zu begegnen: Demokratische Diözesansynoden werden gefordert, die Aufhebung des Zölibats wird verlangt ...": Kein Geringerer als Joseph Ratzinger formulierte dies über Ignaz Heinrich von Wessenberg (1774-1860).

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"Wer seine Werke liest, glaubt einem Progressisten des Jahres 1969 zu begegnen: Demokratische Diözesansynoden werden gefordert, die Aufhebung des Zölibats wird verlangt ...": Kein Geringerer als Joseph Ratzinger formulierte dies über Ignaz Heinrich von Wessenberg (1774-1860).

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Im letzten Kapitel seines 1970 erschienenen Buches "Glaube und Zukunft" referiert Joseph Ratzinger, heute Kardinal und Präfekt der vatikanischen Glaubenskongregation, über die Kirche im Jahre 2000: "Wie wird sie aussehen?" Wir wissen es, nachdem die symbolträchtige Jahreszahl bereits hinter uns liegt: Es ist sicher kein "Wessenbergianismus" in Rom zu spüren, und es haben sich die von dem Kirchenreformer Wessenberg erlebten Umstände - Verwerfung der Bischofsernennung, Zurücknahme der Dialogbereitschaft mit anderen christlichen Religionen und so weiter - wiederholt.

Mit einem Kuriosum kann man die Geschichte kurz erhellen. Vor drei Jahren betitelte die Zürcher Freitag-Zeitung einen Beitrag über die Versetzung des umstrittenen Bischofs von Chur, Wolfgang Haas, zum Oberhirten der gleichzeitig errichteten Erzdiözese Vaduz mit: "Haas nach Vaduz, Wessenberg nach Zürich". Und sie schreibt: "Nachdem nun plötzlich das Unmögliche möglich geworden und extra für Msgr. Haas ein kleines Erzbistum geschaffen worden ist, stellt sich die Frage, weshalb nicht ein Bistum Zürich für Ignaz Heinrich von Wessenberg eingerichtet werden kann. Die Antwort liegt näher als erwartet. Denn auch die römische Kurie kann keine Toten zum Leben erwecken. Und selbst wenn sie es könnte, den Erzfeind Nummer Eins nördlich der Alpen des beginnenden XIX. Jahrhunderts, den Generalvikar, Weihbischof, Koadjutor und de facto letzten Bischof von Konstanz, den Erneuerer der deutschsprachigen Kirche, der manche Beschlüsse des II. Vaticanums vorweggenommen hatte, riefe sie wohl zuletzt von seiner letzten Ruhestätte zurück zum Dienst."

Enge Verknüpfungmit den Habsburgern Nun, was dieser Konstanzer Wessenberg heute ist, das kam zur Sprache; was war er in seiner Zeit wirklich? Ein bekannter schweizerischer Erwachsenenbildner schrieb mir vor kurzem in einem Brief: "... dass alle die Habsburger nicht einen Einzigen hervorzubringen vermochten, welcher der geistigen Dimension jenes großen Ignaz von Wessenberg gleichkäme, den die Konstanzer und eine weitere aufgeschlossene Welt heute noch verehren." Jetzt sind wir wieder in die Gegenwart gerutscht oder doch nicht. Denn die Geschichte der Familie Wessenberg ist mit den Habsburgern im Vorderösterreichischen sehr eng verknüpft. Und im Aargau stand die Burg der Wessenberg schon vor 1.000 Jahren, und dann kam die nur zehn Kilometer entfernte "Habichtsburg", nach der sich die Familie Habsburg ableitete.

Ob im Sundgau, Aargau oder Breisgau, die Wessenberger standen mit ihren Gerichtsbarkeiten, mit ihren Lehen und mit ihren Schwertern ständig an der Seite der Habsburger. Erzherzog Ferdinand Karl (1628-1662) "bestellte eines der bedeutendsten Mitglieder des Ritterstandes für die vorderösterreichische Statthalterschaft, die adlige Regierungsratsstell, den Humprecht von Wessenberg", so der Historiker L. Deimling in seiner Dissertation 1927.

Alle - nicht nur Christen - beten an!

Der historische Rückblick auf die Familie soll mit dem Hinweis auf den Bruder von Ignaz Heinrich, dem am längsten dienenden Diplomaten des österreichischen Herrscherhauses, Johann Philipp Reichsfreiherr von Wessenberg zu Ampringen (1773-1858), dem zweiten österreichischen Bevollmächtigten auf dem Wiener Kongress 1814/15 und Ministerpräsidenten und Außenminister im Revolutionsjahr 1848 beendet werden.

"Gleichsam als gemäßigten Progressisten könnte man die Figur des Konstanzer Generalvikars Wessenberg ansiedeln, der eine simple Reduktion von Glaube auf Sozialarbeit keineswegs mitgemacht hätte." Das ist wieder die Meinung von Joseph Ratzinger (siehe oben). Wir haben uns auf eine Unmenge von Schrifttum über diese Person gefasst zu machen, wenn wir die vielfältigen Tätigkeitsfelder von Ignaz Heinrich ansehen wollen.

Schon als Jugendlicher hat er in erstaunlicher Weise seine Stimme zu allen möglichen Fragen der Gesellschaft und ihrer Probleme erhoben, beziehungsweise in Druck gegeben. In seinem langen Leben hat sich seine Bibliographie auf 460 Titel ausgeweitet. Darin sind nicht nur Auseinandersetzungen mit der Religion, der Kirche, der Pädagogik, der Volksbildung, sondern auch Gedichtbände (seine Gedichte wurden auch von Beethoven vertont) und dramatische Werke. In seinem Einsatz für ein reformierendes Erziehungs- und Bildungswesen verbindet er sich in persönlicher Bekanntschaft mit so bedeutenden Namen wie Johann Heinrich Pestalozzi oder Heinrich Zschokke.

In einer neueren Biographie, die ich in dankenswerterweise von der Basler Historikerin Brigitte Degler-Spengler (welche über Wessenberg im Zusammenhang mit dem Bistum Konstanz am Deutschen Genealogentag in Zürich 2000 referierte) von Helvetia Sacra erhielt, ist von einem Breve Papst Pius VII. (1800-1823) die Rede, wo er seinen persönlichen Dank für die Arbeit des außerordentlichen Gesandten bei der 1798 konstituierten Helvetischen Republik aussprach.

Der Gesandte war Ignaz Heinrich von Wessenberg, welcher von dem das Bistum Konstanz übernehmenden Fürstprimas Dalberg, der für die Neubegründung der in Trümmern liegenden katholischen Kirche Deutschlands kämpfte, 1802 zum Generalvikar ernannt wurde. Die in der Neuordnung der schweizerischen Staatsverfassung zu berücksichtigenden Interessen des Bistums Konstanz wurden von einem jungen dynamischen Aufklärer hervorragend vertreten. Umso mehr verwundert es, wenn man weiß, dass gerade der genannte Papst, allerdings unter schlechter Beratung, den Schweizer Teil des Bistums Konstanz 1814 abtrennte und 1821 durch die Bulle "Provida solersque" das Bistum Konstanz auflöste.

Die Rettungsversuche des Bistums von verschiedenen Seiten und die Verteidigungsschritte des betroffenen Ignaz Heinrich in Rom selbst können hier nicht ausgeführt werden. Wesentlicher erscheint die Erwähnung, dass der josephinistische und aufklärerische Kirchenpolitiker Ignaz Heinrich sich im Verlauf seines Lebens nicht nur als Kunstmäzen (er vermachte seine Bibliothek mit rund 20.000 Bänden, sowie seine umfangreiche Gemälde-, Kupferstich- und Lithographiensammlung der Stadt Konstanz), sondern als Wohltäter hervorgetan hat, indem er 1855 in Konstanz eine "Rettungsanstalt für Mädchen", welche unter dem Namen "Wessenberg-Sozialzentrum" bis heute fortbesteht, unter unendlichen Mühen ins Leben gerufen hat.

In Konstanz wird das Andenken an den Ehrenbürger hochgehalten. Im Zuge eines neu errichteten Kulturzentrums im Wohnpalais des Ignaz Heinrich von Wessenberg, dem ehemaligen Badischen Domhof neben dem Münster gelegen, welcher als fürstliches Lehen durch Ankauf von seinem Bruder Johann Philipp in seinem Namen erworben wurde, wird die Aktualität und Modernität eines Vorläufers, eines ungebrochenen 200-jährigen Reformgeistes stets zu denken sein. So hat man im Zuge der geplanten Umsiedlung der stark expandierten "Wessenberg-Bibliothek" aus dem Wessenberg-Haus in die Universitätsbibliothek Konstanz eine Vertiefung der Forschung über diese Person zu ermöglichen, sowie die Präsenz seiner eigenen Werke vor Ort zu gewährleisten. Sicher ist hier nicht von einer "Wessenberg Renaissance" zu sprechen, da es sich bei dieser Persönlichkeit um kontinuierliche Entfaltung und permanente Neusensibilisierung für seine Ideen in Kirche und Gesellschaft handelt und weiterhin handeln muss.

Für Reform, nicht für Kirchenspaltung Es wurde schon eingangs erwähnt, wie aktuell dieser Bischof in Zürich ist und auch anderswo zu sein scheint. Tatsächlich haben die nach seinem Tode gegründeten, sich allerdings auf eine Gegnerschaft gegen Pius IX. und sein "Unfehlbarkeitsdogma"(1870) rückbeziehenden kirchlichen Vereinigungen, wie die altkatholische (in der Schweiz: christkatholische) Kirche, einen starken Hang zu einem gewissen "Wessenbergianismus". Auf allen Homepages im Internet wird die Gestalt des sogenannten "Romgegners" als Vorbild für die Strukturveränderung in einer quasi katholischen Reform hervorgehoben.

Sicherlich vieles zu Recht, aber auch manches mit zu großem Eifer, da sich Wessenberg zwar für weitreichende Veränderungen, auch im Sinne des österreichischen Kirchenvolksbegehrens, ausgesprochen hat, jedoch nie eine Kirchenspaltung propagiert hatte. Schlecht anstehen würde es allerdings dem einen oder anderen österreichischen Bischof nicht, wenn er sich von der Zivilcourage und dem Engagement des Altösterreichers eine Scheibe abschneiden würde. Das Bistum Konstanz war das ursprünglich größte deutsche Bistum, und es reichte auch in unser heutiges geographisches Österreich.

Dass mir im Jahre 1998 nach dem Erscheinen eines Artikels in der furche über Johann Philipp von Wessenberg Zuschriften gemacht worden sind, in welchen auf die Person seines Bruders Ignaz Heinrich und sein nach wie vor aktuelles "Glaubensbekenntnis" hingewiesen wurde, das überraschte mich doch nicht wenig.

Eine Strophe aus diesem geistigen Erbe soll daher am Schluss stehen: "Drum glaub ich nicht, dass vor dem Gott der Welten, des Buddhas und des Akkorans, Bekenner weniger als Christen gelten, verschieden zwar, doch alle beten an."

Der Autor ist Ur-Ur-Ur-Urgroßneffe von Ignaz Heinrich von Wessenberg undWissenschaftsjournalist.

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