Der Schmerz der Wahrheit

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Wieder holt der Missbrauchsskandal die katholische Kirche ein. Papst Franziskus hat dazu einen "Brandbrief" ans "Volk Gottes" geschrieben. Dieser wird nicht genügen.

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Wieder holt der Missbrauchsskandal die katholische Kirche ein. Papst Franziskus hat dazu einen "Brandbrief" ans "Volk Gottes" geschrieben. Dieser wird nicht genügen.

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Man kann Begrifflichkeiten der Logik bemühen: Das, was Papst Franziskus mit seinem ans "Volk Gottes" gerichteten "Brandbrief" (S. 14 dieser FURCHE) ausgesprochen hat, ist eine der notwendigen Bedingungen, ohne die die katholische Kirche ihrer Verstrickung in die Missbrauchsskandale nicht Herr werden kann. Ja, es ist wichtig, dass der Papst Worte gebrauchte wie: "Der Schmerz der Opfer ist eine Klage, die zum Himmel aufsteigt und die Seele berührt, die aber für lange Zeit nicht beachtet, versteckt und zum Schweigen gebracht wurde." Dem ist nichts hinzuzufügen. Aber es gibt hinreichende Bedingungen, die der Brandbrief nicht anspricht, und die das konkrete Handeln der Kirche und ihrer Verantwortlichen betreffen - in Bezug auf die Bearbeitung der Vergangenheit ebenso wie der Zukunft, in der Missbrauch nie wieder möglich sein soll. Seit der Affäre Groër (hierzulande anno 1995), gefolgt von der größten Kirchenkrise der Moderne, die Anfang der 2000er Jahre in der US-Diözese Boston begann und ein Jahrzehnt später via Berlin wieder auf den Alten Kontinent zurückschwappte, ist der Missbrauch von Kindern und Jugendlichen durch Geistliche und Ordensleute in der katholischen Kirche ein Dauerthema, das immer wieder Schrecklichstes ans Tageslicht bringt.

Ein Kartell des Schweigens und des Vertuschens

Der jüngste Bericht der Grand Jury in Pennsylvania, der in den letzten 70 Jahren 300 missbrauchende Priester mit mehr als 1000 Opfern identifiziert, zählt erschütternde Fälle auf, wie sie zuvor schon aus den Aufarbeitungen anderer US-Gegenden oder Irland oder Deutschland oder auch Österreich erinnerlich sind. Was den Bericht aber so brisant macht, ist, dass er das Kartell des Schweigens und des Vertuschens durch die Verantwortlichen und Oberen offenlegt. Während seit etwa 15 Jahren in den USA und später auch in Europa die Präventionsmaßnahmen gegen Missbrauch in der Kirche zu greifen scheinen, sind Vertre ter dieses Kartells weiter in Amt und Würden. Den Opfern jedoch widerfährt weiter nicht die Gerechtigkeit, die ihnen zukommt.

Nun steht auch der Kardinal von Washington, Donald Wuerl, im Fokus der Kritik, weil ihn der Bericht belastet: Wuerl war von 1988-2006 Erzbischof von Pittsburgh, Pennsylvania. Und dass Wuerls Vorgänger in Washington, Theodore McCarrick, zum Fall à la Affäre Groër wurde (Franziskus zwang ihn, seine Kardinalswürde zurückzulegen), verschärft die Debatte weiter.

Das schreit nach Reform an Leib und Gliedern

USA aufgefordert, analog kollektiv um ihre Demission einzukommen. Und die Bischofskonferenz selber hat Rom um eine Visitation gebeten - so sehr brennt der Hut schon. Will die katholische Kirche Die Dimension, um die es derzeit geht, sollte tiefe Einschnitte ins hierarchische Gefüge der katholischen Kirche zur Folge haben. Bei den Anfang des Jahres rund um Chile diskutierten Fälle kam es dazu, dass fast alle chilenischen Bischöfe dem Papst den Rücktritt angeboten haben. Nun haben etliche tausend US-Theolog(inn)en und in der Seelsorge Tätige die Bischöfe der

diesen selbstverschuldeten Sturm überstehen, dann sind in ihr große Veränderungen nötig - beileibe nicht nur in den USA. Man kann die oben angesprochene Begrifflichkeit weiterspinnen: Die Präventionsmaßnahmen und Null-Toleranz-Politiken gegen Missbrauchstäter in der Kirche, wie sie in betroffenen Ortskirchen seit der Jahrtausendwende zur Anwendung kommen, sind eine notwendige Bedingung für den Prozess, dem sich die Kirche stellen muss. Aber auch da bleiben hinreichende Bedingungen. Und die betreffen die Infragestellung der klerikalen Verfasstheit der Kirche, die Transparenz von Entscheidungen, den Umgang mit Sexualität und das Aufbrechen des hermetischen Männerbundes, in dem die Täter Schutz fanden, nicht aber die Kinder, von denen viele für ihr Leben gezeichnet sind. Das alles schreit nach Reform an Leib und Gliedern. Ein päpstlicher Brandbrief ist da immer noch ein Anfang. Bestenfalls.

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