Hinter der Maskenball-Welt

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Nach Jahrzehnten der Verrichtung des Stundengebetes kenne ich dessen biblische Texte schon sehr gut und manche Passagen fast auswendig. Trotzdem lassen sie mich manchmal plötzlich innehalten und nochmals lesen. Wie unlängst in der Frühe: "Die Satten verdingen sich um Brot, doch die Hungrigen können feiern für immer …" So lässt das Erste Buch Samuel im zweiten Kapitel Hanna beten. Sie war lange Zeit kinderlos geblieben und preist nun Gott für die Erhörung ihrer Gebete. Dabei hatte sie schon verzweifelt gedacht, Gott würde sie, die kleine, unbedeutende Frau, nicht hören. Die scheinbar fest gefügte Ordnung von Wichtig und Unwichtig, Groß und Klein, Mächtig und Schwach ist durch Gottes ganz andere Rangordnung auf den Kopf gestellt worden.

Verdutzt mache ich Halt in der fest gefügten Ordnung meines Stundengebetes. Ich als Beter "von Amts wegen", am Beginn des Tages mit dessen geplantem Ablauf und der ebenso fest gefügten Prognose, was möglich und was unmöglich sein wird: halte ich eine solche Aufmischung meiner täglichen Erfahrungswelt durch die Welt Gottes überhaupt und tatsächlich für möglich? Nichts scheint unwahrscheinlicher, als dass "sich die Satten um Brot verdingen" müssten und "die Hungernden für immer feiern" könnten. Aber, kam mir der Gedanke, ist vielleicht die alltägliche Erfahrungswelt mit ihren fest gefügten Erwartungen und Ordnungen ein Maskenball, den wir mit der Wirklichkeit verwechseln? Besagtes Morgengebet fand nämlich mitten in der Faschingszeit statt. Und nachdem die Texte des Stundengebetes alle vier Wochen wiederkehren, werde ich dem Zitat aus dem Ersten Buch Samuel demnächst wieder begegnen. Diesmal mitten in der Fastenzeit. Ob Fasten nicht eigentlich heißt: in Tuchfühlung kommen wollen mit der Welt Gottes hinter der Maskenballwelt. Mit der Welt des scheinbar Unmöglichen.

Der Autor ist Pfarrer in Probstdorf und Universitätsseelsorger.

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