Spezialist für Zeit und Ewigkeit

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Am 17. November 1994 erhielt der damals 93jährige Philosoph Jean Guitton in der Pariser Rue de Fleurus hohen Besuch: Niemand Geringerer als Präsident Francois Mitterrand, 78 Jahre alt und vom Krebs gezeichnet, machte ihm seine Aufwartung. "Sie als Spezialist für Zeit und Ewigkeit:" soll Mitterrand gefragt haben, "was ist der Tod, was ist im Jenseits?"

Die Geschichte klingt glaubhaft. Mitterrand hat Jean Guitton des öfteren aufgesucht, um über philosophische und theologische Fragen zu diskutieren. Bezeichnend die von ihm selbst kolportierte Antwort des Philosophen: "Das weiß doch ich nicht, schließlich heißt das das âJenseits'". Die Begebenheit ist vermutlich wegen ihrer allegorischen Suggestionskraft weltweit erzählt worden: Im Angesicht des Todes besucht der Herrscher den Denker, besucht die Macht den Geist. Aber der verweigert den Trost und bewahrt sich so seine Freiheit: Er unterwirft sich der Herrschaft nicht, auch nicht einer wohlverständlichen Bitte.

Aber Jean Guitton bedurfte des Glanzes eines Präsidentenbesuches nicht, um als Großer des Geisteslebens zu gelten. Zum "Spezialisten für Zeit und Ewigkeit" wurde er schon durch seine Doktorarbeit über "Die Zeit und Ewigkeit bei Plotin und dem Heiligen Augustinus". Seinen Ruf als christlicher Philosoph festigten nicht nur seine etwa 40 Bücher, sondern auch seine Bekanntschaft mit Päpsten. Er selbst schätzte das Attribut "christlich" für seine Arbeit keineswegs: "Man ist Philosoph, oder man ist es nicht", befand er.

Jean Guitton gilt als großer Brückenbauer zwischen Naturwissenschaft und Religion. Glaube und Wissen würden sich nach seiner Anschauung im 21. Jahrhundert versöhnen. "Mit den letzten Jahren dieses Jahrhunderts geht eine lange Epoche zu Ende", schrieb Guitton in seinem auch hierzulande vielgelesenen Büchlein "Gott und die Wissenschaft" (1996). "Wir treten, als Blinde, in ein metaphysisches Zeitalter ein ... Es erhebt sich eine große Hoffnung für denjenigen, der denkt". So sehr versetzte sich der Philosoph in die Zukunft, daß er sich selbst als ihre "Frühgeburt" oder ihr "Fossil" bezeichnete.

Eine Antwort hat Francois Mitterrand auf seine Frage übrigens doch erhalten, allerdings schon anläßlich einer früheren Begegnung. "Man muß zwischen der Absurdität und dem Mysterium wählen", sagte Guitton damals.

Sein erahntes und ersehntes 21. Jahrhundert sollte Jean Guitton nicht mehr anbrechen sehen. Am 21. März starb er im Alter von fast 98 Jahren in Paris.

Der Autor ist Religionsjournalist im ORF-Fernsehen.

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