Verfassung mit "credenda"

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Sollten die Evangelischen heuer zum Reformationsfest neben der Bibel in Luthers Übersetzung und seinem Lied "Ein feste Burg" auch zum Entwurf der EU-Verfassung als Lektüre gegriffen haben? Zumindest die Initiatoren der Ausstellung "Kirche ordnen - Welt gestalten", die letzte Woche in Brüssel eröffnet wurde, scheinen das zu beabsichtigen. Sie behaupten nämlich, dass es einen klaren Traditionsstrom von den evangelischen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts quer durch die europäische Verfassungsgeschichte bis hin zur EU-Verfassung gibt.

Aus heutiger Sicht können die Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts mit ihren Schul-, Verwaltungs-, Finanz-und Armenordnungen in der Tat als Vorformen einer modernen Gesetzgebung verstanden werden. Sie sind Frühformen der späteren Verfassungen oder Grundgesetze und gehören daher als "Fermente" (Böckenförde) zur Entstehungsgeschichte des modernen Staates dazu. Das eindrücklichste Beispiel dafür ist wohl die Große Württembergische Kirchenordnung von 1559, die unzählige Nachahmer gefunden hat.

Gemeinsam ist diesen Kirchenordnungen, dass sie die "credenda" und die "agenda" festlegen, also die Lehr-und Glaubensgrundlagen ebenso wie die notwendigen organisatorischen Regelungen für das kirchliche Leben. Beim EU-Verfassungsvertrag ist es ganz analog. Neben der Präambel, dem Wertekatalog und der Grundrechtscharta, also den "credenda", enthält er die Bestimmungen zu den Institutionen und Gremien, also "agenda". Auf dem Hintergrund dieser Geschichte ist es verständlich, dass die evangelischen Kirchen keinen EU-Verfassungsvertrag wollen, der nur pragmatisch das Alltagsgeschäft regelt, wie es jüngst von französischer Seite vorgeschlagen wurde. Ohne "credenda" ist die Verfassung wertlos.

Der Autor ist Oberkirchenrat der Evangelischen Kirche A.B.

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