Obwohl dies mein erster Besuch hier in Wien ist, gehören die Stadt Wien und das jüdische Leben in Wien für mich zur Erinnerung. Eine Erinnerung, die mir übertragen wird durch die Augen meiner Großmutter, die hier neben mir steht. Durch die Art und Weise, in der sie denkt und ihr Verhältnis zum Leben in Europa.
Darum, noch bevor ich wusste, dass es eine Stadt mit Namen Wien gibt, wusste ich etwas über Wien. Dies ist meine Art und Weise zum Ausdruck zu bringen, dass die Erinnerung nicht etwas ist, was zur Vergangenheit gehört, sondern in der Gegenwart lebt und im breiteren Sinn vermittelt wird durch diejenigen, die eine Verbindung herstellen zwischen Epoche und Epoche und zwischen Generation und Generation.
Eigentlich ist dies eine alte jüdische Idee.
Kurz vor dem Einzug des jüdischen Volkes nach Erez Israel, schließt Mose einen Bund zwischen sich und Gott und sagt: "Und nicht mit euch allein schließe ich diesen Bund und diesen Eid. Sondern mit dem, der heute hier, mit uns ist, stehend vor dem Ewigen, unserem Gott, als mit dem, der heute nicht mit uns ist." (Dtn 29,13-14) Die Möglichkeit einen Bund zu schließen mit jemandem, der nicht da ist, mit Generationen, die erst künftig sein werden, ist nur möglich durch die Glieder, die zwischen den Generationen vermitteln, durch diejenigen, die für Kontinuität sorgen, für ein Gefühl der Dazugehörigkeit, eine Kontinuität von Sprache, von Kultur, von Kunst.
Bei uns aber hat diese Kontinuität eine sehr solide Basis, eine Gemeinsamkeit im Lernen der Tora. Durch die Interpretationen, die sich von Generation zu Generation verändern und erneuern. Trotz den großen Unterschieden im Zugang zur Tora, zwischen den verschiedenen Teilen der jüdischen Gemeinschaft in der Welt, ist das Lernen der Tora in ihren verschiedenen Formen, die Basis, die das Volk vereint. Sein Weg ist gesichert durch das Weitergeben des Lernen der Tora von Geschlecht zu Geschlecht.
Es wurde gesagt, dass die Tora "siebzig Gesichter" hat. Dies will sagen, dass jeder in der Tora für sich eine besondere Bedeutung finden kann. Aber genau so wie es eine Vielfalt von Bedeutungen gibt, ist diese Vielfalt abhängig vom Bewahren der gemeinsamen Basis: die Tora selbst. [...]
Deine Enkelin Arielle Weill Deine Enkelin, Arielle Weill
