Demokratie unter nachbarn

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Wie ein Stadtteil von Amsterdam versucht, gegen das "Schlechtwetter in der Demokratie" durch Selbstermächtigung mobil zu machen.

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Wie ein Stadtteil von Amsterdam versucht, gegen das "Schlechtwetter in der Demokratie" durch Selbstermächtigung mobil zu machen.

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Ein kurzer, prüfender Blick in den blauen Himmel: "Schlechtes Wetter für Demokratie", befindet Jens Kimmel. Ein kurzes Grinsen deutet die Ironie an, doch natürlich weiß er, dass Flussufer oder Strand an diesem Nachmittag eine Verlockung sind. Es ist ein Samstag, Mitte Juli, in Amsterdam-Oost. Überall um den Javaplein herum sitzen Menschen in Cafés. Jens Kimmel aber hat andere Pläne. Er überquert die Straße und betritt die lokale Niederlassung der städtischen Bibliothek. In einem offenen, halbrunden Raum an der Seite des Gebäudes wird in einer halben Stunde eine Sitzung stattfinden. Zum neunten Mal tagt heute das Nachbarschaftsparlament.

Jens Kimmel, ein Politologe von Anfang 30, hat diese Inititative im Frühling 2017 ins Leben gerufen, gemeinsam mit Giel van der Heijden, einem Kollegen aus dem Studium an der Universität von Amsterdam. Beide fanden sich in einem Dilemma wider: ihrem leidenschaftlichen Interesse für ihr Fach stand das Gefühl gegenüber, dass da etwas fehlte: "Politik war etwas für gewählte Personen in formalen Positionen", beschreibt Kimmel. "Es gibt aber auch eine informelle Ebene. Demonstrationen organisieren, die Nachbarschaft zusammentrommeln, um einen gemeinsamen Gemüsegarten anzulegen. Und das interessierte mich."

In diesem Vakuum entstand die Idee des "Nachbarschaftsparlaments". Wenn man, wie Jens Kimmel, "Politik als Alternative für die eigene Umgebung" sieht, ist der nächste Schritt ein Raum, in dem diese diskutiert werden kann. Allen zugänglich, ohne Grenzen zwischen Politikern und anderen Personen. "Und wo die Mitsprache weiter reicht als die Zwei-Minuten-Auftritte, die Bürger beim Gemeinderat im Stadthaus bekommen können", betont er. "Wo man den Abstand fühlt, zwischen den Menschen im Anzug und denen, die mit ihrem Anliegen gekommen sind."

Inspirationen aus dem Amphitheater

Kimmel hat seine Vorbereitungen abgeschlossen. Das Flip-Chart steht bereit, die Diskussionspunkte sind notiert. Auf den drei Stufen des halbrunden Raums mit hellem Holzboden liegen bunte Sitzkissen bereit, und langsam trudeln auch hier Menschen mit Anliegen ein. 14 Personen sind es, von Ende 20 bis über 60, etwas mehr Männer als Frauen. Die ersten Sitzungen des Nachbarschafts-Parlaments fanden im Sommer 2017 noch im nahen Oosterpark statt. Als der Herbst kam, fand man in der Bibliothek Obdach. Der Raum, findet Initiator Kimmel, ist inspirierend. "Er hat etwas von einem Amphitheater."

Eine der Besucherinnen ist Karine Rocha, mit 29 wohl auch die jüngste unter den Anwesenden. Sie ist gekommen, weil sie mitgestalten will, "nicht nur nehmen, auch geben", und die Entscheidungen "nicht nur dem Bürgermeister oder der Stadtteil-Kommission überlassen" möchte. Amsterdam- Oost, wo sie schon ihr halbes Leben wohnt, "liebt" sie. "Es ist das gemütlichste, persönlichste Viertel der Stadt. Die Menschen kümmern sich hier umeinander." Oost ist das, was man eine "volksbuurt" nennt, ein Quartier der einfachen Leute. Aber auch eines, in dem die Gentrifizierung spürbar ist.

Der erste Diskussionspunkt wurde in der vorigen Sitzung von Karine Rocha vorgebracht. Es geht um das Grillen im Oosterpark und die Frage, ob man wegen Abfallproblem und zerstörtem Gras ein Verbot braucht. Heute ist dazu Maarten Poorter gekommen, der sozialdemokratische neue Vorsitzende des Stadtteils. Er trägt die standestypische Kombination aus Sakko, Jeans und schicken Schuhen und hat seine Sprecherin mitgebracht. Viele andere sind in Sandalen und Shorts gekommen. Neben Poorter hat eine Frau Platz genommen, die ihre Schuhe gleich ganz abgestreift hat.

Sprecherscheiben und Applaus

Poorter steht nun als Erster "op de stip", was "auf dem Punkt" bedeutet und zugleich der Name des Nachbarschaftsparlaments ist. Auf dem Boden liegt eine breite Scheibe, wo die jeweiligen Sprecher ihr Anliegen vortragen. Eine kleine Referenz an die Kisten vom Speakers' Corner, nur egalitärer. Jeder Vortrag wird mit Applaus bedacht. Jens Kimmel schreibt auf dem Flip-Chart mit, welche Ideen zu den jeweiligen Themen genannt werden und wie man vorgehen will.

Der zweite Sprecher vertritt ein Nachbarschaftszentrum. Er hat einen Bericht angefertigt, den er verteilt. Darin geht es um die Kommunikation der Bewohner mit der offiziellen Vertretung des Stadtteils. Praktisch, dass dieser nun durch den Vorsitzenden vertreten ist. Der Kontakt ergibt sich von selbst, der Vorsitzende zeigt sich sehr interessiert an einem gemeinsamen Vorgehen, um die Situation in der Nachbarschaft, in der nicht zuletzt Armut ein wichtiges Thema ist, unter die Lupe zu nehmen.

Dass Bewohner und gewählte Volksvertreter zusammenkommen und damit auch die, wie Kimmel das nennt, "inoffizielle und offizielle Politik", trifft einen Kernaspekt des Nachbarschaftsparlaments. Gerade in den Niederlanden nämlich ist die "Kluft zwischen den Bürgern und Den Haag" seit Jahren von sprichwörtlicher Bedeutung. Seit der sogenannten "Fortuynschen Revolte", dem Aufstieg des rechtspopulistischen Urvaters Pim Fortuyn kurz nach dem Millenium, ist dieses Verhältnis eines, das durchaus auch Wahlen entscheidet. Fortuyns Nachfolger wie Geert Wilders und zuletzt Thierry Baudet haben ihre politischen Karrieren darauf aufgebaut.

Bei den Bewohnern ist dies deutlich zu spüren, sagt Jens Kimmel, der nach einiger Zeit als Forscher an der Universität nun als Lehrer an einer weiterführenden Schule arbeitet. "Es gibt Unzufriedenheit und Zynismus. Man denkt, Politiker wissen doch nicht, was im Viertel ansteht, und die Hoffnung verschwindet, dass sie etwas tun, was einem zu Gute kommt." Auch in den Niederlanden kulminierte diese Haltung 2015/ 2016 in rabiaten, teils gewalttätigen Protesten gegen Flüchtlingsaufnahmen.

Mehr Kontrolle haben

Für Jens Kimmel war diese Gemengelage ein Ausgangspunkt seiner Initiative. "Ich denke, es gibt einen Grund, dass Menschen jemanden wählen, der alle Ausländer aus dem Land werfen will. Es geht darum, keine Kontrolle mehr zu haben über Veränderungen in der Welt, die einen umgibt. Also muss man diese Kontrolle zurückbekommen. Damit kann man auch xenophoben Sentimenten entgegenwirken."

Das Nachbarschafts-Parlament ist darum ausdrücklich ein Ort, der den Menschen aus dem Viertel eine Stimme gibt. Ein Ansatz, der schnell verinnerlicht wurde: als es um Probleme mit Jugendlichen im Quartier geht, kommt bald der Vorschlag, die Gruppe einzuladen. Eine ältere Dame macht einen Vorschlag, wie man sie kontaktieren könnte. Und erntet Zustimmung allenthalben als sie betont, ihnen dann auch das Wort zu lassen.

Am Ende der Sitzung steht die barfüßige Dame auf dem Redner-Punkt und regt an, Obstbäume im Quartier Betondorp zu pflanzen, in dem einst Johan Cruyff aufwuchs. Gerade Kinder könnten so Dinge über verschiedene Obstsorten lernen und die Bewohner zusammen ernten. Jemand schlägt vor, eine Frau aus der Stadtteil-Kommission anzusprechen, die für ihr "grünes Herz" bekannt sei. Dann beendet allgemeiner Applaus die letzte Sitzung, bevor auch das Nachbarschafts-Parlament in die Sommerpause geht. Im September steht das nächste Treffen an.

Initiator Jens Kimmel ist zufrieden. "Direktere Demokratie als dies gibt es nicht. Wir hatten eine gut gemischte Gruppe, nur mein eigenes Alter würde ich mir noch mehr vertreten wünschen." Die Resonanz lag mit 14 Personen letztendlich auch genau im Schnitt. "Vielleicht ist es doch gutes Wetter für Demokratie?"

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