Phantastische Geschichten haben schon immer das seelische Immunsystem gestärkt. Phantastische Geschichten haben natürlich eine gute Presse und können sich auf eine solide Verbreitungstätigkeit der Göttin Fama verlassen. Und so kann man sie auch fast überall auf der Welt antreffen. Und wer immer sie auch erzählt, der ist fest überzeugt davon, daß sie wirklich passiert sind.
König Christian X. von Dänemark hat täglich einen Morgenritt durch Kopenhagen gemacht - auch während der Zeit der deutschen Beset-
zung. Eines Tages kommt der Befehl aus dem Führerhauptquartier: Alle dänischen Juden müssen eine gelbe Armbinde mit dem Davidstern tragen! Noch in der selben Nacht gibt die Badiostation der Widerstandsbewegung die Nachricht durch, König Christian habe Hitler Folgendes geantwortet: „Alle Dänen sind gleich. Und deshalb werde auch er den Judenstern tragen. Und er erwartet, daß alle Dänen seinem Beispiel folgen werden."
Am nächsten Morgen macht der König seinen üblichen Ausritt - und um den Arm trägt er eine gelbe Bin-
de mit dem Davidstern. Und alle Menschen in Kopenhagen trugen ebensolche Armbinden wie ihr König. Die Deutschen sahen sich gezwungen, diese Anordnung aufzuheben.
Ein schwedischer Wissenschaftler ist dieser verbreiteten Geschichte nachgegangen und mußte feststellen, daß sie sich so leider nicht zugetragen hat. Aber diese Geschichte wurde 1941 nur zu gern für wahr gehalten - in einer finsteren und menschenverachtenden Zeit, menschenfreundliche Helden fast ausgestorben waren.
Heutzutage wird diese Geschichte von einem König, der zusammen mit seinem ganzen Volk Widerstand geleistet hat, besonders gern von Christen erzählt. Auch das ist eine Art, wie man eine böse Vergangenheit bewältigen kann. Die Seele friert, wenn sie nur an ihre eigenen bösen Geschichten gekettet ist. Sie verdrängt ihre Realität und ersetzt sie durch edle, geborgte Geschichten. Das mag schändlich sein, aber ohne gute phantastische Geschichten hätte die Seele wahrscheinlich längst den konkret existierenden Leib verlassen.
