Alltagsgeschichten vor der Folie der sowjetischen Wirklichkeit

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Der lettische Regisseur Alvis Hermanis hat acht Erzählungen des sowjetischen Autors und Filmregisseurs Wassili Schukschin für die Bühne realisiert - zu sehen im Wiener Museumsquartier.

Er galt als Volksheld, und jeder Sowjet-Bürger der 1970er Jahre kannte ihn: Der Schriftsteller und Filmregisseur Wassili Schukschin (1929-1974) hinterließ fünf Filme sowie zahlreiche Erzählungen und Novellen über das harte Leben am Land.

Für den lettischen Regisseur Alvis Hermanis, seit Jahren ständiger Gast bei den Wiener Festwochen, sind Schukschins Texte ideales Material für seine Milieustudien. Hermanis' Inszenierungen werden gerne unter dem Begriff "dokumentarisches Theater" eingeordnet, da er stets die Literatur an der Wirklichkeit überprüft und umgekehrt. Im Zentrum von Hermanis' Arbeiten stehen die Menschen als Teil eines gesellschaftlichen Systems - und genau dafür bieten sich Schukschins Gestalten an. Acht Erzählungen hat Hermanis realisiert, die vor allem eines verbindet: die Konfrontation von Stadt und Land, Vorurteile und Anpassungsschwierigkeiten der Figuren, die sämtlich als bizarre Charaktere gezeichnet sind.

Schukschins Dorferzählungen sind Alltagsgeschichten vor der Folie der sowjetischen Wirklichkeit. Da sind selbstbewusste russische Männer, die als Ringer im städtischen Zirkus auftreten und zu Hause vor dem Vater ängstlich die Mütze ziehen; Häftlinge, die aus dem Gefängnis fliehen, auch wenn sie nur mehr wenige Wochen absitzen müssten, um nur einen einzigen Frühlingsabend mit der Familie zu verbringen; oder verliebte Brautwerber, die durch ihre unbeholfene Liebenswürdigkeit erfahrene Nebenbuhler ausstechen. Sie alle tragen eine Sehnsucht in sich, die oft aufmüpfig, zwischendurch sentimental, manchmal komisch den Verlauf der Geschichte bestimmt.

Diese Sehnsüchte spiegeln aber auch die sowjetische Realität ihrer Entstehungszeit wider: Etwa wenn der eifrige Arbeiter das hart verdiente Geld vor der Ehefrau versteckt, um sich ein Mikroskop zu kaufen, das ihn zum Wissenschaftler machen soll. Zustimmend, aber auch kritisch thematisiert Schukschin die ehrgeizigen Ziele der wissenschaftlichen Forschung in der UdSSR. Letztendlich kreisen aber alle Erzählungen um das, was man Herzensbildung nennt.

Rührend ist die Geschichte vom blinden Ziehharmonikaspieler, dessen romantische Lieder verstummen, als das Radio im Dorf Einzug hielt. Am Ende wird er zum Untersuchungsgegenstand dreier Musikwissenschaftler, die am Tonband die Melodien der Volkslieder sichern. Die drei Rubel, die ihm bleiben, haben mit seiner Musik nichts zu tun und werden in tröstlichen Wodka umgesetzt. Fazit: Der Kapitalismus vergiftet den Charakter.

Auch wenn Schukschins Erzählungen in erster Linie als Zeitdokumente interessant sind, so gelingt es Hermanis, sie mit der russischen Wirklichkeit zu verbinden. Doch bald sieht eine Geschichte wie die andere aus. Sie sind zwar moralisch höchst anspruchsvoll, es mangelt ihnen aber letztlich an jener Art von Geheimnis, die sie über das konkret Erzählte hinaus interessant machte. Dass die Retrospektive im Filmmuseum mehr Seiten dieses Künstlers zeigt, bleibt zu hoffen.

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