Der böhmische Überflieger

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Vor 100 Jahren ließ der Altösterreicher Igo Etrich eine von ihm nach der Natur entwickelte Tragflächenform patentieren.

Erst kam der Absturz, dann der Erfolg. "Als sich einmal im Jahre 1901 bei Gegenwind der Apparat abhob, wurde er bei der Landung erheblich beschädigt, ich leicht verletzt."

Was in den 1962 erschienenen Memoiren des österreichischen Luftfahrtpioniers Igo Etrich so lakonisch beschrieben wird, scheint ihn damals allerdings gehörig erschreckt zu haben. So sehr, dass er sich weiteren praktischen Versuchen verweigerte und sich dem Problem erst einmal von der theoretischen Seite näherte. So lange bis er seine berühmte "Taube" entwickelt hatte, ein enorm sicheres Flugzeug, von dem kein Absturz mit tödlichem Ausgang bekannt ist.

Anfänge in Oberaltstadt

Der am 25. Dezember 1879 in Oberaltstadt bei Trautenau (heute Trutnov) in Ostböhmen als Sohn des Spinnereibesitzers Ignaz Etrich geborene Bruchpilot beschäftigte sich schon seit seinem 18. Lebensjahr mit dem uralten Menschheitstraum vom Fliegen. Sein Vater war ebenfalls technischen Neuerungen aufgeschlossen und schickte den Sohn nach Berlin, um zu Studienzwecken Flugapparate zu erwerben. Die Entscheidung fiel auf die beiden noch vorhandenen Flugmaschinen des zwei Jahre zuvor tödlich verunglückten deutschen Flugpioniers Otto Lilienthal. Vater und Sohn richteten daraufhin in ihrer Textilfabrik eine Werkstätte ein und konstruierten einen Gleitflieger mit einer Lilienthal nachempfundenen Tragfläche, der sich als äußerst labil erwies. Der eingangs beschriebene Absturz führte bei Igo Etrich dazu, "dass ich nicht mehr bereit wäre, die Flugversuche mit dem Apparat fortzusetzen, weil ich voraussichtlich dasselbe Schicksal erleiden würde wie Lilienthal ..."

Deswegen und auch weil er sich als Juniorchef um den väterlichen Betrieb kümmern musste, engagierte er den 30-jährigen Fechtlehrer Franz Xaver Wels. Dieser war Mitbegründer des Österreichischen flugtechnischen Vereines und experimentierte schon früher mit Flugdrachen. Gemeinsam studierten sie die gesammelte Fachliteratur und beobachteten den Flug von eigens dafür in einem Gewächshaus gehaltenen Flughunden, einer großen Fledermausart. Zwei Schriften des Hamburger Professors Friedrich Ahlborn erregten schließlich die Aufmerksamkeit von Wels. Besonders in "Über die Stabilität der Flugapparate" wurde die - von Igo Etrich am eigenen Leib verspürte - Instabilität der Lilienthalschen Konstruktionen vernichtend kritisiert. Ahlborn erhob die Forderung nach einer eigenstabilen, absolut flugsicheren Tragfläche und präsentierte diese auch gleich in Gestalt des nierenförmigen Flugsamens der javanischen Kürbispflanze Zanonia macrocarpa, welcher über ausgezeichnete Flugeigenschaften verfügte.

Etrich und Wels kontaktierten den Norddeutschen, ließen sich von ihm Zanonia-Samen besorgen und schufen nach der natürlichen Vorlage erst kleine Papier-Modelle, dann einen Gleitflieger mit sechs Metern Spannweite. 1905 entschlossen sie sich zum Bau eines großen bemannten Gleiters und meldeten die Zanonia-Flügelform zum Patent an. Am 6. Oktober 1906 absolvierte Wels den ersten erfolgreichen Flug auf (alt-) österreichischem Gebiet. Die Erfolge des Duos ließen den Wiener Luftfahrttheoretiker und Publizisten Raimund Nimführ jubeln: "Wir dürfen ... nicht ohne Stolz darauf hinweisen, daß unser Vaterland ... nun auch daran ist, den Vorsprung, den Amerika, England und Frankreich in der praktischen Flugtechnik allmählich erreicht hatten, mit Riesenschritten wettzumachen. Dank den Arbeiten unserer heimischen Lilienthalschüler, Etrich und Wels, sind wir auch hier aus dem Hintertreffen plötzlich in eine der vordersten Reihen gerückt."

Durchbruch in Wr. Neustadt

Der Weg zum Motorflug schien geebnet und die Tätigkeit des "flugtechnischen Ateliers Igo Etrich" wurde nach Wien in die Prater-Rotunde verlegt. Nachdem Wels und Etrich dort einige Zeit vergeblich an dem erstrebten Motorflugzeug herumgebastelt hatten, kam es zum Bruch, und Franz Wels wurde mit 10.000 Kronen abgefunden. Gleichzeitig verlegte Etrich seine Werkstatt nach Wiener Neustadt, wo eine vorausschauende Gemeinde den ersten Flugplatz Österreichs baute und Etrich einen Hangar kostenlos zur Verfügung stellte. (Nachfolger von Wels als Werkmeister, Chefmonteur und Chefpilot wurde der bald weltberühmte Karl Illner.)

In Wiener Neustadt verließ Etrich den einsamen Weg der Entwicklung eines Nurflügel-Flugzeuges und entschied sich für die seit 1876 bekannte Lösung eines Motorflugzeuges mit Rumpf und Schwanzteil. Es zeigte sich alsbald, dass dies die richtige Entscheidung war. Die wegen ihrer Form "Etrich-Taube" genannten Flugzeuge erflogen bald derart viele Rekorde, dass Österreich-Ungarn zur zweitwichtigsten Flugnation der Vorkriegs-Welt wurde.

Überall in Europa wurden die Tauben in Lizenz gebaut, und als der Erste Weltkrieg ausbrach, stellten sie mehr als die Hälfte der Militärflugzeuge der Mittelmächte. Schon zuvor, am 1. November 1911, wurden aus einer italienischen Kriegs-Taube die ersten Fliegerbomben der Kriegsgeschichte abgeworfen.

Neubeginn in Wien

Igo Etrich selbst zog sich nach dem Ende des Weltenbrandes von der Fliegerei zurück und widmete sich wieder der Textilerzeugung. Die Weiterentwicklung des Nurflügel-Flugzeuges mit einem Zanonia-Flügel führt seit einigen Jahren das Wiener Naturhistorische Museum fort. Dort wird nach ersten viel versprechenden Versuchen an einem solarbetriebenen Stratosphärengleiter gearbeitet. Die Fotovoltaikbeschichtung der Tragfläche erzeugt Strom für den Elektroantrieb. Der weltweite Wettlauf um ein solches Flugzeug hat voll eingesetzt, da es die meisten Aufgaben von ungleich teureren Satelliten, die mit Raketen in eine Erdumlaufbahn geschossen werden, erfüllen könnte. Dank der Leistungen Etrichs ist Österreich auch heute mit im Rennen.

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