Der Mensch und sein Leib

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Vor 50 Jahren, am 3. Mai 1961, starb der französische Philosoph Maurice Merleau-Ponty. Er beschritt einen "dritten Weg“ zwischen Edmund Husserl und Martin Heidegger.

"Der ‚gesunde‘ Mensch ist nicht so sehr derjenige, der bei sich alle Widersprüche beseitigt hat: Es ist derjenige, der sie verwendet und sie in seine Lebensarbeit einbezieht.“ Nein, dieser Satz ist kein Extrakt aus einem schöngeistigen Ratgeberbuch, sondern er kommt von "Überall und Nirgends“, einem Text des französischen Philosophen Maurice Merleau-Ponty. Von einem stillen Denker, dem es mehr um eine Weiterentwicklung der Philosophie zu tun war, als um brillant formulierte Marketingfloskeln mit philosophischer Anreicherung. Es war eher ein fades Leben, das er führte, dafür hinterließ er eine umso aufregendere Philosophie. Die wenigen Anekdoten aus seinem Leben ließen und lassen sich nicht so reißerisch vermarkten wie diejenigen von einigen seiner Zeitgenossen, allen voran von seinem Freund Jean-Paul Sartre. Keine Skandale, keine Eskapaden - und selbst das politische Engagement fällt bei Merleau-Ponty vergleichsweise bescheiden aus. Auch der Tod ereilte ihn am 3. Mai 1961 pflichtbewusst an seinem Schreibtisch sitzend. Dafür bleiben seine philosophischen Vorgaben bis heute umso herausfordernder.

"Das Sichtbare und das Unsichtbare“

Maurice Merleau-Ponty wurde am 14. März 1908 in Rochefort-sur-Mer, einer Kleinstadt nahe der Atlantikküste, geboren. Sein Vater, ein Offizier, war kaum zu Hause, seine Mutter unterhielt jahrelang eine Beziehung zu einem benachbarten Universitätsprofessor, der auch sein leiblicher Vater war. Nach dem frühen Tod des gesetzlichen Vaters übersiedelte die Familie, und Maurice wurde von seiner Mutter nach katholischen Maßregeln erzogen. Nach seiner Agrégation in Philosophie im Jahr 1930 unterrichtete er an mehreren Gymnasien, arbeitete aber gleichzeitig an seiner Promotion, die er 1945 erfolgreich verteidigte. Nach einer Professur in Lyon lehrte er von 1949 bis 1952 an der Sorbonne Kinderpsychologie, um anschließend als Philosophieprofessor am Collège de France die dort herrschende systemische Freiheit für die Entwicklung seiner Philosophie zu nutzen. Als er am 3. Mai 1961 starb, war er mitten in der Arbeit an seinem "späten“ Hauptwerk über "Das Sichtbare und das Unsichtbare“.

Der junge Merleau-Ponty macht sich in der Gefolgschaft der phänomenologischen Vordenker Edmund Husserl und Martin Heidegger auf die Suche nach einem tragfähigen Verständnis der menschlichen Wahrnehmung. Gegenüber der die Philosophie während ihrer langen Geschichte hindurch beschäftigenden zwei idealtypischen Wege von einer objektivistischen einerseits und von einer subjektivistischen Sichtweise andererseits versucht Merleau-Ponty einen dritten Weg zu etablieren. Bei ersterem Zugang wird die Außenwelt als den Menschen vorgegeben angesehen, durch die Wahrnehmung wird sie ähnlich einem Abdruck von einem harten Gegenstand auf einer weicheren Oberfläche für die Menschen greifbar; der zweite Weg sieht genau umgekehrt die inneren Möglichkeiten des Menschen als die entscheidende Vorgabe an, mit deren Hilfe die Außenwelt entschlüsselt werden kann.

Die Welt widersetzt sich uns

Wenn Merleau-Ponty in seiner Antrittsvorlesung am Collège de France behauptet, dass "das absolute Wissen des Philosophen die Wahrnehmung“ ist, dann lässt sich dieser Anspruch nur dann durchhalten, wenn bereits in der Wahrnehmung eine tragfähige Beziehung zur Welt außerhalb des Menschen hergestellt wird. Entgegen vielen anderen philosophischen Entwürfen ist bei Merleau-Ponty dieser Bezug zunächst bereits auf der nicht-sprachlichen Ebene möglich, er kommt in einem "wilden Denken“ ohne Begriffe aus, weil die "Welt nicht das ist, was ich denke, sondern das, was ich lebe“, wie er in seinem ersten Hauptwerk "Phänomenologie der Wahrnehmung“ schreibt. Der Wahrnehmungsprozess enthält immer mehr Möglichkeiten als von uns in der Folge jeweils verwirklicht werden, Merleau-Ponty spricht deshalb von einer "Enteignung des Bewusstseins“, die Welt lässt sich nicht in unsere Verfügung pressen, sie widersetzt sich immer wieder unseren Entwürfen. Daher gilt es, Widersprüche in unsere Lebensarbeit einzubeziehen.

Diese Interpretation der menschlichen Wahrnehmung bei Merleau-Ponty hängt wesentlich von seiner Sicht der Leiblichkeit ab. Bereits Husserl hatte eine zweifache Funktion des Leibes vorgeschlagen: Er sprach einmal vom physischen Leib, der wie alle anderen Dinge in der Welt existiert, und dann vom empfindenden Leib, der Subjekt all unserer Empfindungen ist. Der Leib insgesamt, und nicht bloß das Gehirn, stellt für Merleau-Ponty jenen unhintergehbaren Ausgangspunkt zur Verfügung, mit dem Wahrnehmungen - genauso wie alle Wirkungen des Menschen nach außen - erst möglich werden. Wir leben nicht vor der Welt und blicken von einem scheinbar überweltlichen Standpunkt aus auf sie, sondern wir leben in der Welt; Merleau-Ponty charakterisiert den Blick als "Einkörperung des Sehenden in das Sichtbare“. Erst der Leib, doppelt zugeordnet zu den Objekten einerseits und den Subjekten andererseits, kann die Dinge der Welt deswegen berühren und sehen, weil er nach Merleau-Ponty mit ihnen in einem Verwandtschaftsverhältnis steht, weil er selbst ein Ding der Welt ist. Bliebe er allerdings darauf beschränkt, könnte er, und damit wir Menschen, die Welt nicht dermaßen erfahren, wie wir es tun.

Schauen mit beiden Augen

Schon früh hatte sich Merleau-Ponty mit der Malerei von Paul Cézanne auseinandergesetzt und in ihm einen kongenialen Partner gefunden. Auch dieser hatte die Vorstellung von unserem Blick auf die Welt als einem Blick wie durch ein Fenster in eine andere Welt außerhalb von uns - wie dies die vorherrschende Bildauffassung seit der Renaissance war - verworfen, Motive erscheinen bei ihm gleichzeitig nah und fern. Gerade die Malerei führt vor, dass wir unsere Standpunkte der Welt gegenüber nicht auf eine bestimmte Stelle fixieren können, wir sind ständig in Bewegung und schauen zudem mit zwei, und nicht mit einem, in einer Position arretierten Auge auf die Welt. Daraus ergibt sich eine prinzipielle Offenheit, die Merleau-Ponty aber niemals mit Standpunktlosigkeit verwechselt. Daher äußert er sich in seinen religionsphilosophischen Passagen kritisch gegenüber einer "erklärenden Theologie“, die Gott auflöst; er möchte lieber die Neuheit des Christentums aufgrund der Inkarnation, "die alles ändert“, weil Gott in ihnen die menschlichen Unzulänglichkeiten zu seinen eigenen macht, retten.

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