Ein großartiges antikes Dokument

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Thesen, die heute die Grundlage der Naturwissenschaften bilden: Ein Gespräch mit dem amerikanischen Literaturwissenschaftler Stephen Greenblatt über Lukrez' Lehrgedicht "Über die Natur der Dinge".

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Thesen, die heute die Grundlage der Naturwissenschaften bilden: Ein Gespräch mit dem amerikanischen Literaturwissenschaftler Stephen Greenblatt über Lukrez' Lehrgedicht "Über die Natur der Dinge".

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Als Meilenstein der Religionskritik sieht der US-amerikanische Literaturwissenschaftler Stephen Greenblatt den Text "Über die Natur der Dinge" des römischen Philosophen Lukrez. Die FURCHE traf Greenblatt in Berlin.

DIE FURCHE: Sie bezeichnen in der Einleitung zur neuen Prosaübersetzung das Lehrgedicht "Über die Natur der Dinge" von Lukrez als eines "der großartigsten und zugleich merkwürdigsten Werke der klassischen Antike". Was hat Sie zu dieser euphorischen Einschätzung bewogen?

Stephen Greenblatt: Dieses bemerkenswerte Gedicht möchte aufzeigen, dass man sich eher der Schönheit und den Wundern der Welt widmen sollte als Angst oder Furcht zu haben. Bei mir löst es positive Gefühle aus. Es sagt mir: Lebe intensiv, genieße dein Leben und versuche so weit es geht, Schmerzen und Leiden zu vermeiden.

Ein weiterer interessanter Aspekt dieses philosophischen Werks besteht darin, dass es in einer einfachen Sprache geschrieben ist. Es ist für die Allgemeinheit bestimmt und nicht für eine Bildungselite. Bereits der griechische antike Freundeskreis von Epikur, dem sich Lukrez verpflichtet fühlte, kannte keine Bildungsdünkel. Er stand auch Frauen offen, was für die damalige Zeit ungewöhnlich war. Das Buch war als Anleitung zur Befreiung für alle gedacht, als Angebot, das es anzunehmen gilt.

Was mich noch an dem Buch "Über die Natur der Dinge" beeindruckt, ist die Sensibilität des Philosophen gegenüber anderen Lebewesen. Nicht nur die Menschen sollten sich am Leben erfreuen. Im Gegensatz zu vielen zeitgenössischen Philosophen war es für Lukrez klar, dass auch andere Lebewesen Empfindungen wie Schmerz und Freude verspüren; besonders deutlich ist das bei Tieren - wie zum Beispiel bei Hunden - zu beobachten.

DIE FURCHE: Als materialistischer Philosoph steht Lukrez im Gegensatz zur idealistischen Konzeption von Platon, die für die abendländische Tradition prägend war. Wie lautet die Kernthese von Lukrez?

Greenblatt: Als ich noch jung war und zum ersten Mal "Über die Natur der Dinge" las, war ich überrascht, dass es bereits vor über 2000 Jahren einen Philosophen gab, der die Hypothese aufstellte, dass die Welt aus Atomen und der Leere besteht. Er bezeichnete die Atome als "Urelemente", als "materielle Partikel", die unablässig in Bewegung sind. Diese Bewegung der unsichtbaren Partikel bleibt uns meist verborgen; wir können sie uns vorstellen, wenn wir winzige Stäubchen im Licht eines Sonnenstrahls tanzen sehen.

DIE FURCHE: Lukrez, der von den griechischen Materialisten Leukipp und Demokrit ausging, nahm eine entscheidende Modifikation ihrer Theorien über die Atome vor. Könnten Sie diese revolutionäre These erläutern?

Greenblatt: Das Problem der frühen Atomisten bestand darin, dass, wenn sich alle Atome in gerader Linie durch die Leere bewegen würden, es schwierig wäre, eine Erklärung zu finden, wie ein Kontakt zwischen den Atomen erfolgen könnte. Es gebe dann ein Universum, das aus einer unendlichen Zahl von Partikeln bestehen würde, die aber nicht miteinander in Beziehung treten würden. So stellte Lukrez die Hypothese auf, dass es eine minimale seitliche Abweichung im Bewegungsablauf der Atome geben müsse, die zu Kollisionen dieser winzigen Partikel führe. Was immer im Weltall existiert, ist diesen zufälligen Kollisionen zu verdanken.

Die Idee einer Abweichung, die für den Bewegungsablauf der Atome entscheidend ist, wurde häufig von den Gegnern dieser Theorie verspottet. Erst in der Quantentheorie wurde im 20. Jahrhundert die These von der nicht bestimmbaren Bewegung der Atome wieder als plausible Hypothese anerkannt. Tatsächlich können wir nicht länger daran glauben, dass jedes Partikel einen bestimmten, fixierten Platz im Universum einnimmt. Vielmehr bestimmt die Dynamik der Atomkollisionen, auf die Lukrez verwies, das Geschehen im Universum.

DIE FURCHE: In Ihrem Buch "Die Wende" fassen Sie die religionskritischen Thesen von Lukrez so zusammen: "Alle organisierten Religionen sind abergläubische Täuschungen" und "Es gibt keine Engel, keine Dämonen und Geister".

Greenblatt: Lukrez könnte man als herausragenden Religionskritiker seiner Zeit betrachten. Um 50 vor Christus bezeichnete der römische Philosoph die Vielzahl der religiösen Kulte, speziell die Opferkulte, als unsinnig und wertlos. Für ihn waren die Religionen Manifestationen von Wahnvorstellungen. Die Gestalten, die von den Griechen und Römern als übernatürliche Wesen verehrt wurden - wie etwa Dämonen, Nymphen oder himmlische Boten - waren für ihn völlig irreal. Auch Gebete für die römischen Herrscher oder für den militärischen Sieg über Feinde waren für ihn Ausdruck von Irreführungen.

DIE FURCHE: In Ihrem Buch "Die Wende" beschreiben Sie einige Konsequenzen der Atomtheorie von Lukrez. Wie haben sie in Bezug auf die monotheistischen Religionen ausgesehen?

Greenblatt: Die Konsequenzen der Hypothese, die Lukrez aufstellte, waren - vor allem für die monotheistischen Religionen - wenig erfreulich. Sie besagten, dass es keines Schöpfergottes bedurfte, den man sich als einen göttlichen Uhrmacher vorstellte, der den komplexen Mechanismus des Universums in Gang setzte. Die Theorie von Lukrez ist mit der Schöpfungsgeschichte, wie sie in der Genesis erzählt wird, nicht kompatibel. Es gibt auch keinen Demiurgen, der das Skript für die Entwicklung der Evolution geschrieben hat. Diese These bildet die Grundlage der heutigen Naturwissenschaften; sie ist aber für viele Menschen - vor allem für religiöse -noch schwer nachvollziehbar.

DIE FURCHE: Sind die religionskritischen Ausführungen von Lukrez für eine zeitgenössische Religionskritik aktuell?

Greenblatt: Ich denke nicht, dass man die religionskritischen Thesen von Lukrez direkt auf die monotheistischen Religionen wie Judentum, Christentum oder Islam ohne weiteres übertragen kann. Alle drei Religionen haben eine komplexe Geschichte und unterschiedliche Auffassungen, zum Beispiel zur Thematik der Toleranz. Man kann die römischen religiösen Kulte nicht mit den Weltreligionen gleichsetzen. Ich fühle mich nicht als Parteigänger von Lukrez, sondern als sein Interpret und vertrete die Auffassung, dass man das Lehrgedicht "Über die Natur der Dinge" keineswegs als Dokument verwenden sollte, um die aktuelle Lage der Weltreligionen zu analysieren.

Über die Natur der Dinge

Von Lukrez

Übersetzt von Klaus Binder

Galiani 2014. 500 S., geb., € 41,20

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