Eine gute Ankunft hat Zukunft

Werbung
Werbung
Werbung

Der kanadische Publizist Doug Saunders hat ein wegweisendes Buch zum Thema "Migration“ vorgelegt, das sich wohltuend von den einschlägigen verkrampften Debatten abhebt.

Migration ist das prägende Phänomen der Gegenwart. Laut Prognosen wird bis Ende des Jahrhunderts ein Drittel der Weltbevölkerung seinen Geburtsort verlassen und anderswohin gezogen sein. Die Wanderungsbewegungen von Millionen, ja Milliarden Menschen über alle Grenzen hinweg verändern das Antlitz der Erde. Umso erstaunlicher, dass es außerhalb von Fachkreisen bislang kaum grundlegende, fundamentale Betrachtungen zu diesem eminent wichtigen Thema gab.

Das ist nun anders. Vor Kurzem ist das Buch "Arrival City“ des kanadischen Publizisten Doug Saunders auf Deutsch erschienen. Dem Autor gelingt es darin, auf leicht verständliche und verblüffend einleuchtende Weise die grundlegenden Mechanismen zu erklären, wie Migration vonstattengeht, und die notwendigen Bedingungen herauszuarbeiten, unter denen Migranten einen Platz in der Gesellschaft ihrer neuen Heimat finden können. Es ist ein Werk, das einem die Augen öffnet. Von einer "wahren Sensation“, einem "Buch, das auf den Tisch jedes Politikers gehört“, schwärmt niemand geringerer als Peter Sloterdijk, der bedeutendste deutsche Philosoph der Gegenwart.

Landleben bar jeder Romantik

Zunächst hält Saunders fest, dass es sich bei der Massenwanderung um eine Bewegung vom Land in die Städte handelt. In weiten Teilen der Welt - vor 150 Jahren war das in Europa nicht anders - hat Landleben nichts Romantisches an sich, sondern ist mit Unterernährung, hoher Kindersterblichkeit und verkürzter Lebenserwartung verbunden. Die Habenichtse, egal woher sie kommen, wollen nichts anderes, als ihre Lebensqualität und die ihrer Nachkommen verbessern.

Dann richtet Saunders den Blick auf jene Orte, an denen Migranten ankommen. Dazu prägt er den Begriff "Ankunftsstadt“ ("Arrival City“). Das können neue Stadtviertel sein, die von den Migranten errichtet werden, oder ein engmaschiges Netzwerk von Migranten, das in einem unterprivilegierten Bezirk eine Minderheit bildet. Zahllose Beispiele, ob Berlin-Kreuzberg oder Londoner East End, ob die Favelas von Rio de Janeiro oder die Slums von Bombay, demonstrieren: Es hängt von diesen Orten ab, ob Migration zum Fluch oder zum Segen wird. Funktioniert eine Ankunftsstadt nicht, so wird sie zum sozialen Pulverfass, zur Brutstätte von Kriminalität und Extremismus, ja kann sogar das Staatsgefüge ins Wanken bringen. Die Französische Revolution 1789 und die Islamische Revolution in Persien 1979 begannen beide als Revolten in den damaligen Ankunftsstädten von Paris beziehungsweise Teheran. Funktioniert eine Ankunftsstadt hingegen, so wird sie zu einem beachtlichen Wirtschaftsfaktor und zur Geburtsstätte einer neuen Mittelschicht.

Damit die Ankunftsstadt gedeiht, müssen einige wenige Grundbedingungen erfüllt sein. Erstens muss es den Migranten möglich sein, unkompliziert Kleinunternehmen zu gründen. Mit einem kleinen Geschäft, einer Imbissbude oder einer Näherei in einem Hinterhof lässt sich Geld verdienen, das in die Ausbildung der Kinder investiert wird oder den im Herkunftsland verbliebenen Verwandten zugutekommt. Zweitens muss der Erwerb von billigem Grund- und Wohnungseigentum möglich sein. Der Besitz einer Hütte oder einer Kleinstwohnung gibt nicht nur Sicherheit, sondern ist auch ein Kapital. Drittens muss die Ankunftsstadt über eine hohe Bevölkerungsdichte verfügen, damit sich die für die Migranten wichtigen, von ihrer Herkunft geprägten sozialen Netzwerke entfalten können. So stammen zum Beispiel 80 Prozent der nach Großbritannien eigewanderten Pakistanis aus einem einzigen winzigen Bezirk des Landes. Und viertens muss es den Migranten möglich sein, die Ankunftsstadt nach ihren wirtschaftlichen Bedürfnissen zu gestalten.

Von Großbritannien lernen

In Großbritannien zum Beispiel waren diese Bedingungen im Großen und Ganzen erfüllt. Die Kinder der aus Pakistan und Bangladesch eingewanderten Billiglohnarbeiter und Curry-Restaurant-Besitzer sind mittlerweile in der Mitte der britischen Gesellschaft angekommen. Am europäischen Kontinent hingegen ist einiges schiefgelaufen. Die am Reißbrett entworfenen Wohnblocks der Pariser Vororte, in denen die nach Frankreich Migrierenden landen, sind ausschließlich zum Wohnen erbaut und bieten weder die Möglichkeit für Eigentumserwerb noch für den Betrieb von Kleinunternehmen. Und sie sind auch viel zu wenig dicht gebaut, um das lebendige Treiben einer funktionierenden Ankunftsstadt zu gewährleisten. In Deutschland hingegen hindert ein rigides Staatsbürgerschafts- und Gewerberecht die Migranten an der Gründung von Kleinunternehmen. Dieser Befund lässt sich möglicherweise auch auf Österreich, das bei Saunders nur in einem Halbsatz auftaucht, übertragen - denn selbstverständlich sind auch Teile von Wien oder Graz Ankunftsstadt.

Popanz Fremdenfeindlichkeit

Höchst bemerkenswert ist: Der hierzulande allzu gerne beschworene Popanz Fremdenfeindlichkeit kommt als Grund für das Scheitern von Migration bei Saunders nicht vor. Auch all das, was unter dem Etikett "Integrationsdebatte“ läuft, sucht man in "Arrival City“ vergebens. Vielleicht der wichtigste Schluss, der aus dem Buch gezogen werden kann: Stimmen die Rahmenbedingungen, dann passiert Integration ganz automatisch.

Eines aber ist ganz und gar unmöglich: den Zuzug von Landbewohnern in die großen Städte zu stoppen. Derartige Versuche sind bislang überall gescheitert. Selbst in Ländern, wo Ankunftsstädte - missverstanden als Elendsviertel - brutal mit Bulldozern plattgewalzt werden, beginnen die Migranten praktisch schon am nächsten Tag mit dem Wiederaufbau. In Polen verhinderte die Politik gezielt, dass sich die bitterarme Landbevölkerung in Warschau oder Krakau ansiedelte - mit dem Effekt, dass Millionen junge Polen das Land verließen und in Ankunftsstädte im Ausland strömten, etwa nach London. Die große Völkerwanderung wird erst dann zu Ende sein, wenn die Mehrzahl der Weltbevölkerung in Städten lebt.

Man kann an "Arrival City“ kritisieren, dass es all jene Probleme, die sich im Zuge von Migration aus dem Zusammenprall gänzlich unterschiedlicher Kulturen ergeben, völlig beiseitelässt. Ignoriert wird auch die Tatsache, dass sich unter gleich widrigen Bedingungen, etwa in Deutschland, bestimmte Migrantengruppen besser behaupten als andere. Aber das tut der bahnbrechenden Publikation keinen Abbruch. Denn mit ihr liegt erstmals ein populäres Werk vor, das die Mechanismen der Migration verständlich macht und Lösungen für die daraus entstehenden Probleme aufzeigt. Eine Pflichtlektüre für jeden, der beim Thema Migration mitreden möchte.

Arrival City

Von Doug Saunders, Blessing Verlag, München 2011, 572 Seiten, geb., e 23,60

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung