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Das Judentum als solches hat sich zu allen Zeiten verändert und fortentwickelt: es hat den Glauben der Erzväter und Erzmütter mit der Lehre vom Sinai in Einklang gebracht, mit dem Idealismus der Propheten, mit den pragmatischen Einzelentscheidungen der Rabbinen. Dies zeigt sich vor allem in der talmudischen Zeit, in der halachische Prinzipien lebhaft diskutiert und kritisch geprüft wurden.

Bräuche, die nicht mehr durchführbar waren, wurden durch die Rabbinen erfolgreich abgeschafft, aber auch durch einen Interpretationsprozess, der dem Wortsinn des Tora-Textes andere Bedeutungen verlieh. So wurde die Todesstrafe, die in der biblischen Literatur üblich ist, schließlich an so viele Bedingungen geknüpft, dass es unmöglich wurde, sie zu vollstrecken. In ähnlicher Weise löste man den Satz "Auge um Auge, Zahn um Zahn“ (Ex 21,24) von jeglicher körperlichen Vergeltung ab und bezog ihn vielmehr auf einen rein finanziellen Ausgleich. Später setzte man durch rabbinische Beschlüsse Gesetze außer Kraft, die nachteilige Wirkungen entfalteten. So machte es Hillels "Prosbul“ möglich, dass Kredite auch nach dem Schabbatjahr zurückgezahlt werden müssen und nicht verfallen, wie es die Bibel gebietet.

Im 2. Jahrhundert dauerte der Schabbatgottesdienst eine Stunde, der Tora-Abschnitt wurde in die Landessprache übersetzt, die Gebete variierten in jeder Gemeinde, Männer trugen keine Kopfbedeckung, konnten mehr als eine Ehefrau haben und im Gottesdienst mit den Frauen zusammen sitzen.

So muss sich im Judentum jede Generation neu bemühen, die höchsten Ideale mit den Gegebenheiten des Alltags zu verbinden und inmitten der modernen Gesellschaft bewusst jüdisch zu leben. Juden aller Richtungen begreifen das als heilige Aufgabe. Das ist die wörtliche Bedeutung des Wortes "Israel“ ("der mit Gott ringt“; Gen 32,29).

Der Autor ist Rabbiner und leitet das Abraham-Geiger-Kolleg in Berlin

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