Ein gottgefälliger Streit

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Thema: Religiöse Autorität

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"Als Mose auf die Höhe stieg, um die Tora in Empfang zu nehmen, wurden ihm im Zusammenhang mit einer jeden Sache 49 Gründe gezeigt, warum es erlaubt sein sollte, und 49 Gründe, warum es verboten sein sollte. Als Mose den Heiligen - Gepriesen sei er! - um endgültige Entscheidungen bat, wurde ihm gesagt, dass derartige Entscheidungen den Weisen Israels in jeder einzelnen Generation vorbehalten seien und dass die Entscheidungen, die sie dann jeweils träfen, die gültigen Entscheidungen seien."

So schreibt Rabbi Jom Tow ben Avraham Ischbilly aus Sevilla im 14. Jahrhundert. Er will damit deutlich machen, dass die Gerechtigkeit in den biblischen Texten durch menschliche Auslegung ans Licht komme - in jeder Generation neu.

Durch die Rabbiner wurde so schon manches abgeschafft in einem Interpretationsprozess, der dem Wortsinn des Toratextes andere Bedeutungen verlieh. So wurde z. B. die Todesstrafe, die in der biblischen Literatur üblich ist, an so viele Bedingungen geknüpft, dass es unmöglich wurde, sie zu vollstrecken. Wie sehr das traditionelle Judentum in der Vergangenheit Veränderungen gebilligt hat, zeigt der Umstand, dass im 2. Jh. n. d. Z. die Schabbatgottesdienste eine Stunde dauerten, die Gebete in jeder Gemeinde verschieden waren, Männer keine Kopfbedeckung trugen, es ihnen erlaubt war, mehr als eine Frau zu haben, und sie im Gottesdienst vermutlich mit den Frauen zusammensaßen.

Das Judentum geht also von der Vorstellung aus, dass sich der Wille Gottes fortwährend entfaltet und abweichend von den Interpretationen der Vergangenheit gedeutet werden kann. Der Bibel wird man dann gerecht, wenn der Mensch sie sorgfältig und gewissenhaft auslegt und seine Vernunft walten lässt. Unter dieser Maßgabe lässt sich über die wahre Übersetzung heiliger Texte trefflich streiten. Es ist ein gottgefälliger Streit.

* Der Autor ist Rektor des Abraham-Geiger-Kollegs in Potsdam

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