Eine menschliche Mission

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Menschlichkeit heißt auch Brückenbauen zwischen Kulturen. Angelika Neuwirth, Theologische Preisträgerin der Salzburger Hochschulwochen 2015, lebt dies vor.

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Menschlichkeit heißt auch Brückenbauen zwischen Kulturen. Angelika Neuwirth, Theologische Preisträgerin der Salzburger Hochschulwochen 2015, lebt dies vor.

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Angelika Neuwirth ist heute nicht nur die mit Abstand renommierteste Islamwissenschafterin weltweit, sie ist auch eine Brückenbauerin zwischen der islamischen und der nichtislamischen Kultur. Ihre Grundthese lautet: Wir entstammen alle einem gemeinsamen Entstehungsszenario; ein Sachverhalt, der nur durch spätere historische Entwicklungen verunklärt worden ist.

Die verbindenden Elemente findet sie in der Spätantike. Weder die islamische Welt noch der Westen können diese gemeinsame Tradition für sich pachten. Die große Herausforderung, gegen die sich Neuwirth stellt, sind uralte Festschreibungen von Andersheit. Denn einerseits geht die islamische Selbstwahrnehmung von einer essenziellen Vorstellung vom Islam aus: Der Islam habe sich von Beginn an unabhängig von der umgebenden Kultur etabliert. Und andererseits glaubt man im Westen, dass der Islam das ganz Andere sei, also etwas, was nicht zu der eigenen Kultur gehört. Angelika Neuwirth ist nicht nur Wissenschafterin, sie hat vielmehr eine humane Mission, Juden, Christen und Muslime an ihre gemeinsamen Wurzeln zu erinnern, um das Verbindende in den Vordergrund zu stellen.

Europäischer Zugang zum Koran

Für Angelika Neuwirth ist der Koran keineswegs ein Buch der Muslime allein, sondern ein Text, der alle etwas angeht. Dieser Text versteht sich ja selbst ursprünglich als Verkündigung an Menschen, die gar keine Muslime waren. In ihrem Werk "Der Koran als Text der Spätantike" stellt Angelika Neuwirth daher einen europäischen Zugang zum Koran dar. Sie zeigt auf faszinierende Weise, dass wenn man den Koran historisch liest, man auf dieselben Traditionen stößt, die von Europäern als für ihre Kultur grundlegend in Anspruch genommen werden. Angelika Neuwirth versteht den Koran diskursiv als Resultat von Dialog, Debatte, Argumentation, Annahme und Zurückweisung. Muslimische Theologen, die heute den Koran mit historisch-kritischen Zugängne erforschen, gehen ebenfalls von der Diskursivität seiner Verkündung aus.

Seit 2007 verantwortet Angelika Neuwirth das Forschungsprojekt Corpus Coranicum, das als Langzeitprojekt von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften finanziert wird. In diesem Projekt werden textuelle und kontextuelle Relevanz der koranischen Suren und ihre Auswirkungen auf die semantische und pragmatische Interpretation des Korans sowie die geistige Umwelt des Entstehungstextes untersucht.

Angelika Neuwirth ist aber auch von der Ästhetik und Poesie des Korans stark beeindruckt. Sie hat sich in ihren Forschungen allerdings nicht nur mit dem Koran und der arabischen Literatur auseinandergesetzt, sondern auch mit der palästinensischen Dichtung wie auch der Literatur des arabisch-jüdischen Konflikts. Sie hegt eine große Begeisterung für den palästinensischen Schriftsteller und Dichter Mahmud Darwisch, über den sie schon in den 1990er Jahren zu schreiben begonnen hat.

Ich durfte Angelika Neuwirth nicht nur als exzellente Wissenschaftlerin kennenlernen und von ihr viel lernen, sondern auch als einen Menschen, der sich trotz unglaublich vieler Verpflichtungen im In- und Ausland die Zeit nimmt, junge Wissenschaftler zu fördern. Angelika Neuwirth lebt viele Monate des Jahres im Nahen Osten, sie hat viele Studierende, die sie sowohl in Beirut als auch in Jerusalem, betreut. Für viele dieser jungen Menschen ist Angelika Neuwirth nicht nur ein wissenschaftliches Vorbild, sie ist zugleich Freundin, Schwester und Mutter. Gerade diese menschliche Seite, die Angelika Neuwirth immer begleitet, erklärt neben ihrer Authentizität und Seriosität als Wissenschaftlerin, warum sie in der islamischen Welt, auch von frommen Muslimen, so sehr geschätzt und gewürdigt wird, auch wenn manche ihrer Thesen die Selbstwahrnehmung vieler Muslime erschüttern. Und so wird Frau Neuwirth eingeladen, Vorträge nicht nur in Harvard und Princeton zu halten, sondern auch an vielen arabischen Universitäten sowie an den wichtigsten islamischen Institutionen.

Eine Haltung des Sich-Öffnens

Will man Angelika Neuwirth wirklich würdigen, dann nicht allein durch Worte, sondern vor allem dadurch, dass man ihr Anliegen als Brückenbauerin ernst nimmt. Für die islamische Theologie bedeutet dies, sich Traditionen zu öffnen, denen man sich in der Regel deshalb verschließt, weil man sie als das "Andere" wahrnimmt. So anders sind diese jedoch nicht. Für westliche Forscher bedeutet dies wiederum, den Islam nicht als die fremde, die andere Tradition zu betrachten, auf die man nur von außen schaut, sondern als eine Entwicklung einer gemeinsamen Tradition, die uns allen gehört. Angelika Neuwirths Arbeit ist ein Aufruf zu einer Haltung des "Sich-Öffnens", um sich neu zu finden.

Der Autor leitet das Zentrum für Islamische Theologie an der Universität Münster

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