Eine Reise gegen das Vergessen

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Eine 15-köpfige Gruppe flog im Juni zu einer Gedenkreise zur ehemaligen NS-Vernichtungsstätte Maly Trostinec in Weißrussland. Fast 10.000 österreichische Juden wurden dort ermordet. An dem Ort, wo kaum etwas an die Geschehnisse von damals erinnert, setzten die Mitreisenden ein Zeichen gegen das Vergessen.

Die Stelle in dem Wäldchen liegt etwa zehn Kilometer von Minsk entfernt. Hohe Kiefern ragen in den Himmel. Es ist ruhig ringsherum, nur das Gezwitscher der vielen Vögel ist zu vernehmen. Es könnte ein idyllischer Ort sein, wüsste man nicht, was hier geschehen ist. Zwischen 40.000 und 60.000 Menschen sind in dem Waldstück bei Maly Trostinec ermordet worden, fast 10.000 davon waren österreichische Jüdinnen und Juden, die aus Wien hierher gebracht wurden. Nur ein kleiner, unauffälliger Gedenkstein einer weißrussischen Initiative erinnert heute daran, was sich hier zugetragen hat. Mehr nicht. Kein größeres Denkmal - und vor allem: keine Namen.

Per Kindertransport nach England

Die österreichische Gruppe, die hierhergekommen ist, um der ermordeten Wiener Juden zu gedenken, möchte das ändern. Jackie Young ist aus London angereist. Young wurde 1941 als Jona Jakob Spiegel in Wien geboren. Mit einem Draht befestigt er an einem Baum ein gelbes Schild, auf dem der Name seiner Mutter geschrieben steht, Elsa Spiegel. "Ich kann mich an meine Mutter nicht erinnern, ich habe nie ein Foto von ihr gesehen. Was ich weiß, ist, dass sie aus Wien hierher deportiert und ermordet wurde“, erzählt Jackie Young traurig. Er selbst wurde als sechsmonatiges Baby von seiner Mutter getrennt und nach Theresienstadt gebracht, wo er zweieinhalb Jahre blieb. Danach kam er mit einem Kindertransport nach England. "Ich habe erst viel später erfahren, dass ich adoptiert wurde. Man sagte mir dann, dass ich aus Österreich stamme und dass von meiner Familie niemand mehr lebt“, erinnert sich Young. Ein paar Meter weiter befestigt der 82-jährige Otto Deutsch an einem anderen Baum Schilder mit den Namen seiner Eltern und seiner Schwester. Sie wurden ebenfalls in Maly Trostinec ermordet. Tief ergriffen spricht Otto Deutsch das Kaddisch, das jüdische Totengebet, für seine Familie. Viele Jahre lang hat er darauf gewartet, erstmals den Ort aufzusuchen, an dem seine Familie gestorben ist.

Die Idee, Schilder mit den Namen der Ermordeten an den Bäumen anzubringen, hatte die Organisatorin der Reise, die Wienerin Waltraud Barton. Dass die Gedenkreise heuer zum zweiten Mal stattfinden konnte, ist ihrem großen Engagement zu verdanken. Barton initiierte die Reise auch im Vorjahr, um der ermordeten ersten Frau ihres Großvaters, Malvine Barton, zu gedenken. Malvine Barton, geborene Jüdin, war früh aus der jüdischen Kultusgemeinde ausgetreten und wurde später evangelisch getauft. Das änderte nichts daran, dass sie im August 1942 nach Maly Trostinec deportiert und umgebracht wurde.

40.000 bis 60.000 Tote

Die Schätzungen zu den Toten im Vernichtungslager gehen auseinander, eine Kommission im Jahr 1944 sprach von 206.500 Ermordeten, doch diese Summe gilt vermutlich für den gesamten Großraum Minsk. Als gesichert gilt die Zahl von 40.000 bis 60.000 Menschen, die in Maly Trostinec ihr Leben lassen mussten. Sie kamen mit Transportzügen aus Hamburg, Berlin, Brünn oder Theresienstadt. 9600 österreichische Juden wurden mit Zügen aus Wien nach Minsk und weiter nach Maly Trostinec deportiert. Damit dürfte Maly Trostinec jener Ort sein, an dem die meisten österreichischen Juden ermordet wurden. Das Waldstück diente als Exekutionsstätte, zur Vernichtungsanlage gehörte aber auch das Lager, in dem Zwangsarbeiter arbeiten mussten. Der erste Zug mit 1000 Juden aus Wien traf im November 1941 ein. Im Mai, Juni, August und September 1942 folgten etwa im Zweiwochenabstand weitere Züge mit meist jeweils 1000 Wiener Juden. Anfangs fuhren die Züge noch den Minsker Güterbahnhof an, ab August 1942 leitete man sie direkt ins Vernichtungslager um. Der Ablauf der Exekutionen folgte immer dem gleichen Muster. Nach dem Verlassen der Waggons mussten sich die Eintreffenden auf der Wiese sammeln, wo ihnen ihr Eigentum weggenommen wurde. Dann erfolgte die Aussonderung der Arbeitsfähigen, alle anderen wurden sofort zu den Erschießungsplätzen gebracht. Sie mussten sich vor fünf Meter tiefen und bis zu 50 Meter langen Gruben aufstellen, in die sie nach der Erschießung geworfen wurden. In einer späteren Geheimaktion versuchten die Nazis bei ihrem Rückzug vor der russischen Armee die Spuren der Massaker zu verwischen. Sie ließen die Leichen wieder ausgraben und verbrannten sie auf hohen Scheiterhaufen.

Dass Maly Trostinec im Vergleich zu anderen Vernichtungslagern wie etwa Auschwitz oder Treblinka wenig bekannt ist, hat mehrere Gründe. "Einerseits gab es hier fast keine Überlebenden, weshalb nur schwer eine Aufarbeitung in Gang gesetzt wird“, sagt Claudia Kuretsidis-Haider, Teilnehmerin der Gedenkreise und Mitarbeiterin des DÖW (Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands). Anderseits sei die Aufarbeitungspolitik des offiziellen Österreich äußerst mangelhaft betrieben worden. Doch auch Weißrussland hatte wenig Interesse an einer Aufarbeitung. Das Waldstück bei Maly Trostinec wurde nämlich schon vor dem Krieg für Erschießungen genutzt. "Bereits das stalinistische Regime hat hier Massentötungen durchgeführt“, sagt Tatjana Paschkur, die weißrussische Begleitperson der Reisegruppe.

Appell an offizielles Österreich

Umso wichtiger sind private Initiativen, die die historische Aufarbeitung in Gang setzen. Organisatorin Waltraud Barton gründete im Zuge ihrer persönlichen Erinnerungsarbeit den Verein "IM-MER: Initiative Malvine - Maly Trostinec erinnern“. Im Rahmen der dreitägigen Reise fand auf dem Platz des ehemaligen jüdischen Friedhofs in Minsk eine interreligiöse Gedenkfeier statt. In Anwesenheit des Presseattachés der österreichischen Botschaft Moskau richtete Barton einen Appell an das offizielle Österreich zur Errichtung einer Gedenktafel. Im Vorjahr wurde auf ihr Drängen ein erstes Zeichen gesetzt und in Minsk ein Gedenkstein der Republik Österreich aufgestellt. Am eigentlichen Ort der Exekutionen erinnert nach wie vor nichts an die ermordeten österreichischen Juden. "Die Menschen, die hier ermordet wurden, haben ein Recht darauf, dass ihre Namen aufscheinen. Um ihrer angemessen gedenken zu können, ist es notwendig, einen Platz zu schaffen“, sagt Waltraud Barton. Sie wünscht sich ein offizielles Denkmal gegen das Vergessen. Mit der Reise haben sie und die Mitreisenden dazu ein kräftiges Zeichen gesetzt.

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