7088910-1994_22_24.jpg
Digital In Arbeit

Das verlassene Paradies

Werbung
Werbung
Werbung

Der uruguayische Schriftsteller Hora-cio Quiroga reiste 1903 als Fotograf ins Tropennest San Ignacio, um die Überreste der rätselhaften Geschichte der Region zu dokumentieren. Kurze Zeit später ließ er sich am Rande von San Ignacio in einem Haus mit Palmenpark, Gayaba-baum und tropischem Inspirationsweg nieder.

Mit Panoramablick über den zauberischen Rio Paranä nach Paraguay tippte er auf einer tragbaren Remington-Schreibmaschine seine Prosawerke, zu denen Erzählungen, Mythen und Legenden des Urwalds und der Guarani gehören.

Der Historiker Philip Caraman aus Oxford betitelte ein Buch über die zahllosen jesuitischen Missionsansiedlungen in Lateinamerika „Das verlorene Paradies”. Auch Voltaire, Montesquieu und Lafar-gue waren Bewunderer der brüderlichen Lebensform weniger Geistlicher mit vielen Stämmen der Ureinwohner in Frieden und

Harmonie. Jenseits des Atlantiks wurde eine Utopie vorgelebt, von der heute die Ruinen in San Ignacio zeugen.

In der nordöstlichsten Provinz Argentiniens, die in ihrem Namen „Misiones” das christliche Kulturerbe wachruft, befindet sich, kaum mehr als fünfzig Kilometer von der Provinzhauptstadt Posadas entfernt, San Ignacio. Die Jesuitenmission wurde 1632 gegründet, als hunderttausend Indianer des Stammes der Guarani aus den ersten, bereits 1609 begründeten Missionsstationen auf der Flucht vor Sklavenhändlern aus Säo Paulo waren. Im portugiesisch verwalteten Gebiet gab es noch bis 1888 den Sklavenhandel, der von der spanischen Krone zu Beginn des 16. Jahrhunderts abgeschafft wurde, soweit sich die Ureinwohner zum Christentum bekannten.

In der mythischen Vorstellungswelt der Guarani war Tupä der himmlische Urvater, dem alle Wesen friedlich nachfolgten. Die Missionare des Jesuitenordens lernten Guarani und studierten ihre Tradition und faszinierende Naturmystik. Sie übersetzten das Evangelium ins Guarani und druckten 1639 die ersten Bücher im Süden Lateinamerikas. Aus der indianischen Vorstellungswelt wurde die christliche Überlieferung hergeleitet und praktiziert. Tupä war widerspruchslos mit dem Gottvater des Abendlandes identisch.

Nur zwei bis maximal fünf Ordensbrüder lebten in San Ignacio mit bis zu siebentausend Guarani zusammen, die dem Ackerbau, vor allem von Maniok und Mais, der Rinderzucht und dem Kunsthandwerk nachgingen, gregorianische Choräle zur Messe sangen, Lesen und Schreiben lernten, sogar ein Krankenhaus führten und auch die erste Druckerei erstellten.

Jede Aktivität stand unter der Leitung der Missionare, die darauf achteten, daß neben den persönlichen Arbeiten und familiären Bedürfnissen auch soziale und religiöse Verantwortung übernommen wurde.

Wegen der anhaltenden Übergriffe der Sklavenhändler aus Säo Paulo wurde eine Verteidigungsmiliz aufgebaut, in der die Guarani auch Feuerwaffen benutzten. Dies, aber vor allem abenteuerliche Neidereien und politische Erwägungen im spanischen Königshaus führten dann im Jahr 1767 zum Verbot des Jesuitenordens und zum bitteren Ende des toleranten und autarken Missionswesens.

Für die zivilisationserprobten Guarani begann der unaufhaltsame kulturelle Untergang, unterdrückt von den weltlichen Nachfolgern, zerrieben in den nationalen Unabhängigkeitskriegen Argentiniens, Paraguays und Brasiliens Anfang des 18. Jahrhunderts und verloren mit ihrem handwerklichen Können in fremden Städten oder als Feldarbeiter auf den Estancias im Landesinneren.

In einer schwer zuganglichen Stadtrandzone leben heute einige Guarani-Familien in einem bescheidenen Reservat, bebauen das zugewiesene Land und fertigen ihre alten kunsthandwerklichen Erzeugnisse für folkloristische Läden oder zum ambulanten Verkauf auf der Marktstraße nahe den jesuitischen Ruinen von San Ignacio.

Die friedfertige Atmosphäre der Stadt ist ein Nachklang auf das verlorene Paradies der einst prosperierenden Missionssiedlungen, die dem Zeitensprung ebenso tragisch ausgeliefert waren wie einst die Guarani bei der Eroberung.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung