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Ein Blick in den menschlichen Abgrund

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Walter Manoscheks Buch ist nachdenklichen Zeitgenossen zu empfehlen, die sich vor einem Blick in frühere und leider auch heutige Abgründe nicht fürchten.

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Walter Manoscheks Buch ist nachdenklichen Zeitgenossen zu empfehlen, die sich vor einem Blick in frühere und leider auch heutige Abgründe nicht fürchten.

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In der Schriftenreihe des deutschen Militärgeschichtlichen Forschungsamtes ist ein Buch erschienen, das nach mehr als einem Jahrhundert das Vorgehen von Soldaten gegen die zivile Bevölkerung eingehend und wissenschaftlich beleuchtet. Unter dem Titel „Serbien ist judenfrei” zeigt sein Autor Walter Manoschek vor allem, daß an den Verbrechen nicht nur nationalsozialistische Organisationen, wie SS und SD beteiligt waren, sondern auch die Wehrmacht. Er weist nach, daß in der Besatzungsmacht in Serbien Österreicher sowohl auf höchster Kommandoebene, als auch bei den Mannschaften in überdurchschnittlich hoher Zahl repräsentiert waren.

Auch wenn man die serbische Literatur zur Ermordung fast aller Juden und Zigeuner sowie vieler serbischer Zivilisten als Geiseln kennt, stellt man fest, daß Manoschek, dank der Durchsicht vieler bisher vernachlässigter Archive, dem allgemeinen Bild neue wesentliche Mosaiksteinchen hinzugefügt hat.

Man fragt sich, welchen Sinn die Beschäftigung mit solchen Untaten mit einer Verspätung von mehr als einem halben Jahrhundert hat? Obwohl ein zufällig Geretteter, dessen Eltern in den Vergasungswagen, die Manoschek beschreibt, umgekommen sind, wußte ich bis vor kurzem selbst nicht, ob man das Unsägliche nicht vergessen sollte? Die letzten Ereignisse in meiner Heimat haben mich eines Besseren belehrt. Das Böse ist an keine Nation gebunden und da es immer wieder auftaucht, muß es beschrieben werden.

Im heutigen Belgrad wurde der Ministerpräsident des besetzten Serbiens, General Milan Ne-dic, der sich selbst den serbischen Petain nannte, in ein Buch über die „100 bedeutendsten Serben in der Geschichte”, herausgegeben von der Belgrader Akademie der Wissenschaften, aufgenommen.

Manoschek weist nach, daß Nedic in einem Gespräch mit dem deutschen Gesandten Benzler das „schärfste sofortige Vorgehen gegen Juden” als eine der Hauptaufgaben bezeichnet hat. Quis-lings hat es überall gegeben, aber nicht überall werden sie nach mehr als 50 Jahren als „bedeutend” gefeiert.

Bei Manoschek lese ich auch, daß der Mann, der als Lagerkommandant die Vergasungsautos, in denen, wie es damals hieß, „... die Juden dem Erstickungstod zugeführt wurden”, begleitete, ein Herbert Andorfer aus Linz war, der in einem Prozeß 1967 zu zweieinhalb Jahren wegen „Beihilfe zum Mord” verurteilt wurde. Wir könnten uns also in der Straßenbahn begegnen. Damit muß ich auch leben. Schwierig, obwohl meine Eltern nicht auferstanden wären, wenn Herr Andorfer etwas länger hinter Gittern verbracht hätte.

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