Gesellschaft an der Kippe

Werbung
Werbung
Werbung

Wastwater, das jüngste Stück des britischen Dramatikers Simon Stephens, ist nach einem See benannt. Im Lake District gelegen, ist Wastwater der tiefste See Englands. Für Stephens ist er gleichsam Metapher für die Menschen oder auch die Gesellschaft. Denn der See zeigt sich meist mit einer ruhigen, glatten Oberfläche. Darunter verborgen aber liegen tiefe Abgründe, die sprichwörtlichen Leichen, wie Lisa im Stück einmal erzählt.

Wastwater ist ein ruhiges, unspektakuläres Stück, das Katie Mitchell ohne Mätzchen unaufgeregt und klar inszeniert. Gezeigt werden drei verschiedene Begegnungen von jeweils zwei Menschen, hervorragend gespielt von Mitgliedern des Londoner Royal Court Theatre.

Die drei Szenen spielen alle in der Nähe des Flughafens London Heathrow. Sie sind nur lose miteinander verknüpft. Da wird zum einen in jeder Szene das Habanera-Motiv aus Bizets "Carmen“ angesungen, zum anderen werden Figuren erwähnt, die in einer anderen Szene auch eine Rolle spielen oder denen wir später sogar begegnen.

Zweideutige Spuren

Die erste Szene zeigt den Eingang eines einfachen kleinen Farmhauses. Es soll schon bald der Erweiterung des Flughafens weichen. Hier findet ein berührendes, auch beklemmendes Abschiedsgespräch zwischen einer älteren Frau und einem jüngeren Mann statt, zwischen Mutter und - wie wir beiläufig erfahren - Pflegesohn. Er will nach Kanada auswandern, noch einmal von vorne beginnen, vergessen vielleicht, nachdem er einen Autounfall verschuldet hatte, den sein Freund nicht überlebte. Dass in ihrer Beziehung etwas nicht stimmt, kann man nur vage vermuten.

Die zweite Szene spielt im nüchternen Ambiente eines Viersterneflughafenhotels. Hier treffen sich Lisa, die Polizistin, und ein um zwölf Jahre jüngerer Kunstprofessor zum Sex. Beide sind verheiratet, nervös und müssen vorher reden. Dabei offenbart sie ihm ihre Vergangenheit - Pornos, Drogen - und schließlich ihre Vorlieben für harten Sex. Als sie ihn auffordert, sie zu fesseln und zu schlagen, ist er schockiert. Doch er tut es.

Die dritte Szene zeigt eine leere Fabrikhalle. Hier trifft sich eine junge Frau mit einem Mann - von dem wir aus der zweiten Szene wissen, dass er im Verdacht steht als Lehrer eine Schülerin verführt zu haben - um ihm ein neunjähriges asiatisches Mädchen zu verkaufen. Es bleibt unklar, ob Pädophilie vorliegt oder Adoption aus Verzweiflung.

Es gehört zu Simon Stephens Spezialität solche ambiguen Spuren zu legen. Stets bleibt es dem Zuschauer überlassen dem Geschehen nachzufühlen, es zu deuten. Mitchells präzise Regie fügt dem Text nichts hinzu. Sie stellt die Szenen ganz nah ans Bühnenportal, gleichsam wie unter ein Vergrößerungsglas, wo die sonst kaum merkbaren Bruchstellen zu einer Atmosphäre des Unheimlichen anschwellen, wo die Beziehungen zerbrechlich und ungewiss sind und auch jäh in die Katastrophe umschlagen könnten.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung