Im Transitbereich

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XAVER BAYER ENTWIRFT EIN BEDROHLICHES SZENARIO, EINE WELT DER DIGICAMS, HANDYS UND ÜBERWACHUNGSKAMERAS.

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XAVER BAYER ENTWIRFT EIN BEDROHLICHES SZENARIO, EINE WELT DER DIGICAMS, HANDYS UND ÜBERWACHUNGSKAMERAS.

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Flughäfen sind keine sehr anheimelnden Aufenthaltsorte: Jeder kennt das Unbehagen angesichts der Sicherheitsschleusen ("sie sehen aus wie Kulissen für einen Science-fiction-Film, dessen Handlung in einem totalitären Staat einer fernen Zukunft spielt"), doch besonders quälend ist der Aufenthalt im Transitbereich: auf halber Strecke gefangen in einem Raum vom Charme einer Shopping Mall, im Strom vieler anderer "Transfergestalten".

Jeder ist bestrebt, diese unvermeidlichen Durchgangsorte so schnell wie möglich zu durchlaufen, doch gelegentlich zwingen Unwägbarkeiten wie Asche speiende Vulkane zu längerem Aufenthalt. Aber daneben gibt es noch Menschen mit beschränkter Reisefreiheit, die überhaupt im Transferbereich stranden; am bekanntesten der Fall jenes Iraners, der 18 Jahre lang am Pariser Flughafen lebte und dessen Schicksal die Vorlage für den -leider recht glatten - Spielberg-Film "The Terminal" (2004) lieferte. Der Transitbereich kann für Flüchtlinge und Staatenlose also auch leicht zur zynischen Metapher für "Endstation" werden.

Wenn Xaver Bayers namenloser Held nun in "der sterilen und saubermännischen Atmosphäre" des Brüsseler Flughafens beinahe hängenbleibt, so tragen daran nicht fehlende Dokumente oder ein unklarer Flüchtlingsstatus die Schuld, sondern innere Gründe nicht minder existenzieller Art.

Aus einem einzigen fulminanten, weder durch Punkt noch Absatz unterbrochenen Monolog entsteht nach und nach das Psychogramm eines Mannes in einer schweren Krise: Seine Beziehung zu Theresa ist zerbrochen und sein Beruf, die Fotografie, ist ihm in den letzten Jahren zum Ekel geworden ("als hätte ich das Sehen verlernt"); den daraus resultierenden Schmerz bekämpft er durch rastlose Reisetätigkeit, akribische -durchaus zwanghafte! - Selbstreflexionen und Alkohol.

Hyperreale Bilder

Typisch für Bayer ist auch an diesem Text ein stets gegenwärtiges, diffuses Bedrohungsszenario. So ist es kein Zufall, dass der Monologisierende Fotograf ist, also berufsmäßiger Beobachter, der sich selbst zum Objekt geworden ist und den Skrupel angesichts der eigenen Profession plagen sowie das unbestimmte Gefühl, dass allem Digitalen ein zerstörerischer Keim innewohne. Jean Baudrillard ist hier nicht fern, wo Myriaden von Digicams, Handys und Überwachungskameras ein hyperreales Bild der erlebten Flughafensituation generieren: " durch den Sucher betrachtet wirken plötzlich alle Menschen hier wie Simulakren ihrer selbst, als würden sie aus der Zukunft kommen und auf ungeschickte Weisen danach trachten, sich möglichst unauffällig anzupassen, indem sie die ihrer Einschätzung nach typische Art der Menschen des beginnenden Einundzwanzigsten Jahrhunderts imitieren, oder derart, denke ich weiter, als wüssten sie, dass die Zukunft längst einen irreversibel verhängnisvollen Weg eingeschlagen hat, dem zu folgen sie verdammt sind "

Bayer lässt das Bewusstsein seines Helden in Mäandern strömen, visuelle Eindrücke aufnehmen und in assoziativer Verknüpfung Brücken zu Erinnertem und Imaginiertem schlagen. Kurz: Ein vielschichtiger, sprachlich und formal anspruchsvoller Text voller literarischer Anspielungen von Joyce bis Kafka, der trotz eines Minimums an äußerer Handlung (ein Mann verpasst seinen Anschlussflug) die Spannung bis zum rasanten Ende hält und bei dem auch absurde Komik nicht zu kurz kommt.

Wenn die Kinder Steine ins Wasser werfen Erzählung von Xaver Bayer Jung und Jung 2011 120 S., geb., € 16,80

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