Wiederentdeckung des Wunders: Büchner-Preis an Sibylle Lewitscharoff

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DIE SCHRIFTSTELLERIN SIBYLLE LEWITSCHAROFF ERHÄLT FÜR IHRE ZORNIGEN UND ZAUBERHAFTEN WERKE DEN DIESJÄHRIGEN GEORG-BÜCHNER-PREIS.

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DIE SCHRIFTSTELLERIN SIBYLLE LEWITSCHAROFF ERHÄLT FÜR IHRE ZORNIGEN UND ZAUBERHAFTEN WERKE DEN DIESJÄHRIGEN GEORG-BÜCHNER-PREIS.

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"Wenn die Löwen malen könnten, wären ihre Jäger die Gejagten." Hans Blumenbergs Gleichnis will heißen: Sobald man der poetischen Imagination freien Lauf lässt, bekommen die Bilder unserer vertrauten Welt den Anstrich des Wunderbaren. Ein epischer Nachfolger dieser Löwen-Philosophie ist Sibylle Lewitscharoffs Roman "Blumenberg", ein Denkmal für den Meisterdenker. Der sitzt nachts am Schreibtisch -und sieht einen Löwen auf seinem Teppich thronen: "Groß, gelb, atmend". Ein geistiges Experiment, eine surreale Halluzination - oder eine Parallelwelt?

Mit Rätseln wie diesem weckt die Autorin die Spannung ihrer Leser. Sie schlägt dabei, wie Ijoma Mangold schreibt, "Schneisen" in eine Welt, die mit ihrer sichtbaren Existenz triumphiert und dabei vergisst, dass es doch immer mehr Unsichtbares in der Welt über uns und in uns gibt, als wir zu träumen wagen. Auf faszinierende Weise hat Sibylle Lewitscharoff für einen Re-Import des Wunders in die Literatur gesorgt. "Ein Erzähler hat aber die Pflicht, auch das Unwahrscheinliche wahrheitsgetreu zu verzeichnen", so heißt es in ihren Frankfurter Poetikvorlesungen "Vom Guten, Schönen und Wahren"(2012).

Bereits in dem Debütwerk "Pong", das sie 1998 in Klagenfurt vorstellte, der Bachmann-Preis folgte auf dem Fuß, taucht das Wunderbare in der Verkleidung des scheinbar Verrückten auf. "Pong", der Held, der an den vom Eigenleben der Dinge besessenen französischen Literaten Francis Ponge erinnert, sucht einen "Ausschlupf aus der herrschenden Ödnis". Er will die Dinge nicht so sehen, wie sie sind. Sondern seinen eigenen Kopf durchsetzen. Am Ende dieser kleinepischen Denk-Schrift sehen wir ihn vom Hausdach springen. Dem Mond entgegen. Das kann nicht gut enden. In "Pong redivivus", der soeben erschienenen Fortsetzung, landet der "kühne, Pläne schmiedende" Pong im "Gezweig der Blutbuche" vor seinem Haus - und anschließend im Krankenhaus, wo er seine Vermessung des Bewusstseins weitgehend ungestört fortführen kann. So wandelt Pong auf dem "Laufsteg des Textes zwischen balletthafter Poesie und manierierter Entfremdung"(Rita Anna Tüpper).

Raufen mit dem Zeitgeist

Sibylle Lewitscharoff bekämpft nicht die Gegenwart, wie der Kritiker Georg Diez annimmt. Sie durchleuchtet ihre Benutzeroberflächen und rauft sich mit dem Zeitgeist. Ihre Sprache ist zornig und zugleich zauberhaft, erfindungsreich und elegant, und ihr Erzählen folgt einer mythischen Methode, die davon ausgeht, dass viele Götter ein Vergnügen sind, ein Gott aber eine Anstrengung ist. Der religiöse Bezug ist in dem Roman "Consummatus" von 1986, einer modernen Orpheusgeschichte, ebenso unverkennbar wie in dem Migrations-und Reiseroman "Apostoloff"(2008).

Dafür zeugen auch die Engel, die sich in ihren Romanen, in der modernen Literatur auffällig genug, ein Stelldichein geben. In "Blumenberg" treten sie als "Sammler, Sortierer, Begutachter" auf. In der transzendental obdachlosen Moderne sind diese Engel Eideshelfer des Wunderbaren. Sie erretten eine Welt, die mit den Mitteln eines realistischen Erzählens sonst vielleicht nicht mehr zu retten wäre. Am 26. Oktober erhält Sibylle Lewitscharoff, die bereits mit dem Raabe-und dem Kleist-Preis ausgezeichnet worden ist und für ihre literarischen Vorbilder die Rangordnung "Erstens Gott, zweitens Kafka, drittens Beckett. Ab da Tumult" geltend macht (in ihrer Selbstvorstellung für die Darmstädter Akademie, 2007), den renommiertesten Literaturpreis im deutschsprachigen Raum, den Georg-Büchner-Preis.

Wir wissen von Sibylle Lewitscharoffs Romanfigur Blumenberg, dass eine "Welt ohne Löwen trostlos wäre". Ein wunderbarer Trost ist es, dass es ihre Bücher und Essays gibt. Es ist zu hören, dass bald ein Krimi erscheint und dass in Rom, wo sie derzeit lebt, ein neuer Roman heranwächst. Er handelt von einem genialen Erfinder der Neuzeit, einem theologischen Tief-und Querdenker, von einem Autor, der auch das Thrillergenre inspiriert hat: von Dante.

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