Logik jenseits des gesunden Menschenverstandes

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"In dieser Welt ist alles Bedingte unbedingt, alles Hypothetische kategorisch, alles Mögliche unzweifelhaft - und umgekehrt: Unbedingtes kann bedingt werden. In ihr gibt es sogar eine bedingte Unbedingtheit: die Prädestination der Moiren."(Jakow Golossowker) Es gibt Bücher, bei denen man nur staunen kann: Warum sind sie noch nicht ins Deutsche übersetzt worden? Ich meine selbstverständlich nicht Belletristik: Wir haben jedes Recht, Sprüche wie "Der bedeutendste Autor ...lands" mit Nichtbeachtung zu strafen.

Nein, ich spreche über die Geisteswissenschaften, in diesem Fall über die Altphilologie. Die Deutschen glauben anscheinend, nicht nur die moderne Altphilologie erfunden zu haben (was stimmt), sondern auch die Antike selbst, die in gewissem Sinne zu einem Territorium Deutschlands geworden ist. Deshalb interessiert sie nicht, was Ausländer über ihr Staatsgebiet denken. Nehmen wir Jakow Golossowkers "Titanensagen": Hier wird die vorolympische Mythologie rekonstruiert und in Form eines spannenden Kinderbuchs dargestellt. In der UdSSR 1955 erschienen, ins Deutsche noch immer nicht übersetzt. Aber das ist nicht das Einzige, womit Golossowker als Altphilologe dienen kann. Ich meine beispielsweise seine bahnbrechende "Logik des antiken Mythos".

Erstaunliche Aktualität

Golossowker wurde 1890 in Kiew in eine reiche jüdische Familie geboren, machte an der Kiewer kaiserlichen Universität seinen Abschluss in Philologie und Philosophie, arbeitete als Gymnasialdirektor in Moskau, wurde von Lunatscharski auf die Krim geschickt, um die Museumsschätze zu ordnen, übersetzte altgriechische Lyrik. Er hörte in Berlin Vorlesungen von Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, dann lebte er mit einer vergleichsweise kurzen Unterbrechung (drei Jahre Lager, drei Jahre Verbannung) bis zu seinem Tod am 20. Juli 1960 in Moskau. Besonders populär wurde seine Arbeit über Dostojewski und Kant. 1987 erschien "Logik des antiken Mythos". Wegen dieser Arbeit, die mit den Jahren eine erstaunliche Aktualität entwickelt, schreibe ich diese Kolumne. Urteilen Sie selbst, ob wir nicht bereits in der Welt leben, die Golossowker als die "mythologische" beschreibt: "So eröffnet uns die Logik des Wunders einen gewissen, dem gesunden Menschenverstand der formalen Logik fremden 'Verstand des Unverstandes' in unserer kreativen Imagination. [...] Das, was aus Sicht der formalen Logik Irrung, Fehler ist, wird in der Logik des Wunders als Gesetz verfestigt, das die Wunderwelt regiert." Liest sich das nicht als Rezeption der gegenwärtigen Medienwelt? Sind wir nicht längst in dieser "Wunderwelt" gelandet?

Ich glaube, Golossowker sollte schleunigst ins Deutsche übersetzt werden! Man kann dann selbst ein Urteil über sein in meinen Augen mehr als bedeutendes Werk fällen. Und über die Welt, in der wir leben. Die Welt jenseits der Logik des gesunden Menschenverstands: "Für die Wesen und Gegenstände der Wunderwelt ist das fundamentum divisionis (die Grundlage der Trennung), d. h. das Einheitskriterium des Unterschieds, [...] nicht immer Pflicht; es wird verletzt und kann sogar völlig fehlen."

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