Im Theater an der Wien brechen Christophe Rousset und Mariame Clément mit ihrer Umdeutung von "Castor et Pollux“ eine Lanze für Jean-Philippe Rameau.
Heimisch geworden ist die barocke französische Oper hierzulande nie. Ob sich das während der Direktion Dominique Meyer im Wiener Haus am Ring ändern wird? Aber nicht dort, sondern im Theater an der Wien widmete man sich zuletzt diesem Genre, am Beispiel eines Komponisten, dessen Vergessenheit schon zu Beginn des vorigen Jahrhunderts niemand Geringerer als Claude Debussy ausdrücklich bedauerte. "Sie mied jeden Wortschwall und besaß Geist; wir wagen kaum mehr, Geist zu haben, wir fürchten, dass es uns an Größe fehle, bei der wir doch nur außer Atem geraten und oft dazu noch erfolglos blieben“, verband er sein Rameau-Plädoyer mit Kritik an zeitgenössischen musikalischen Entwicklungen.
In zwei Versionen liegt Rameaus musikalische Tragödie "Castor et Pollux“ vor - die erste mit, die zweite ohne Prolog. Uraufgeführt wurden beide im Palais Royal in Paris, 1737 und 1754. Im Theater an der Wien hat man sich für die spätere entschieden, weil sie für den heutigen Betrachter zugänglicher sei, wie Regisseurin Mariame Clément im Programmheft wortreich und plausibel erläutert. Im Mittelpunkt des Geschehens steht nicht nur ein Brüderpaar, die Zwillinge Castor und Pollux, sondern mit Télaire und Phébé auch ein Schwesternpaar, wobei überdies alle als Cousins und Cousinen miteinander verwandt sind. Das hat die Regie dazu inspiriert, das hier abgewandelte mythologische Thema zu einer Familiengeschichte umzudeuten. Weil man dabei wissen möchte, wie sie alle aufgewachsen sind und wie sie im Laufe der Jahre miteinander ausgekommen sind, erscheinen im Zuge der Handlung die einzelnen Protagonisten auch als Kinder oder Jugendliche und trifft man auf die sonst vom Libretto ausgesparten Eltern.
Ein - wenn auch nicht ohne Redundanzen auskommender - Kunstkniff. Jedenfalls ermöglicht dies immer wieder zurückzublenden, die Handlung quasi filmisch auflaufen zu lassen, vor allem für die sonst dem Ballett reservierten Divertissements eine neue Lösung zu finden. Schließlich lässt Clément die Handlung nicht in der Antike spielen, sondern versetzt sie in das Ambiente einer vornehmen Familie. Dem entspricht auch das dominierende Bühnebild (Julia Hansen, die auch für die Kostüme verantwortlich zeichnet): eine mit rotem Teppich ausgelegte große Treppe in einer großzügig angelegten Villa, mit einer Ahnengalerie auf dem Treppenflor, aber auch genügend Platz, um auch noch einen kursorischen Blick auf den hinter einem Schreibtisch sitzenden Jupiter erhaschen zu können. Damit wird die hier besondere Verbindung von Erde und Olymp dokumentiert.
Idealer klanglicher Teppich
Dass nicht die originale Apotheose als Finale gezeigt wird, liegt auf der Hand. Anstelle dessen wird der Sarg mit Pollux unter Begleitung der zahlreichen Bediensteten hinausgetragen. Phébé, mit deren Klage über ihr Schicksal alles begonnen hat, bleibt ganz oben auf der Treppe zurück, auf der Erde, der Weg nach oben ist ihr verwehrt.
Auch Christophe Rousset an der Spitze seines Ensembles Les Talens Lyriques bemühte sich um eine lebendige Umsetzung von Rameaus Partitur, überzeugte durch seine bewusst auf Abwechslung setzende Tempodramaturgie und legte den Solisten - voran Dietrich Henschel als selbstbewusster Pollux, Christiane Karg als vom Schicksal gebeugte Télaire, Anne Sofie von Otter als ebenso stimmlich wie schauspielerisch beeindruckende, intrigante, vor nichts zurückscheuende Phébé - und dem Schoenberg Chor einen idealen klanglichen Teppich.