Nichts geht mehr - alles ist möglich

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Nach Tschechows "Nach Moskau“ bei den Wiener Festwochen 2010 zeigt Frank Castorf heuer seine Dramatisierung von Dostojewskis "Der Spieler“.

Ein elegantes Hotel, in dem die betrügerischen Halbweltdamen Blanche heißen, wo verzweifelte, dem Wahnsinn nahe Militärs, französische Grafen, kühle Engländer, Wiener Vorstadtstrizzis, verliebte Spielsüchtige mit Erbtanten, die nicht sterben wollen, und anderen zusammentreffen: Das ist eine Konstellation, die an Boulevardkomödien denken lässt.

Und genau das hat der Langzeitintendant der Berliner Volksbühne aus Dostojewskis Roman "Der Spieler“ aus dem Jahre 1866 gemacht. Bunt, schrill, brachial wirkt seine jüngste Dostojewski-Erkundung, in der er - mit einem lustvoll-spielwütigen Ensemble - Kasperltheater, Kino, Politik und Boulevard zu einem regellosen Durcheinander zusammenmixt. Die unablässig sich drehende Bühne im Theater an der Wien gibt verschiedene Einblicke in Bert Neumanns zusammengenagelten Bretterverschlag. Der zeigt mit verschiedenen Fototapeten (Rokoko, Geisterbahn, Bareingang mit der Aufschrift "Leben ist tödlich“) ausgeschlagene Räume, die durch Gänge und (reichlich auf- und zugeschlagene) Türen miteinander verbunden sind. Im Hintergrund leuchtet eine pixelige LED-Videowand, auf der wir Szenen am Swimmingpool beobachten dürfen, oder wo das Innere des Spielcasinos und immer öfter während des gut fünfstündigen Abends die erschreckten Gesichter der Spieler in Großaufnahme erscheinen.

Zockerei um ersehntes Glück

Aber es wäre nicht Castorf, würde er aus der Spieler-Geschichte nicht ein Gleichnis unserer Casino-Ökonomie lesen wollen. Tatsächlich erzeugt sein heiteres, nur vage an die Vorlage angelehntes Tohuwabohu das Gefühl des "Nichts geht mehr“ und "Alles ist möglich“.

Die Geschichte versammelt eine kurz vor dem finanziellen Ruin stehende dekadente Truppe in einem Nobelhotel im fiktiven deutschen Spielerparadies Roulettenburg (hinter dem Namen verbirgt sich der zu Dostojewskis Zeiten berühmte Kurort Wiesbaden). Das hier versammelte Personal wartet begierig darauf, am Spieltisch die prekäre Lage zu meistern oder besser noch gleich, ein Vermögen zu machen. Da Sparsamkeit, Mäßigung oder gar Arbeit keine Optionen mehr sind, die ungerechte Güterverteilung auf Erden irgendwie umzukehren, verlässt man sich hier auf die hemmungslose (und nebenbei genüsslichere) Zockerei, um das ersehnte Lebensglück, das so sehr nur von Geld abhängig zu sein scheint, Wirklichkeit werden zu lassen.

Da aber das Spielglück auf sich warten lässt, hängen die Hoffnungen aller an der stinkreichen und glücklicherweise auch noch hochbetagten Tante Antonida Wassiljewna (Sophie Rois). Aber da ein Unglück nie alleine kommt, erfreut sich Babuschka einer robusten Gesundheit und statt des Telegramms, das ihr Ableben vermelden soll, erscheint die rüstige Alte gleich selbst in der Spielmetropole. Schließlich verfällt sie da, weil verspielen vielleicht doch schöner als vererben ist, der Spielsucht. Nachdem sie zuerst das 35-Fache gewonnen hat, will sie gleich noch einmal und geht schließlich den Weg aller Spieler: Sie verzockt in kürzester Zeit zum Schrecken aller alles.

Tod, Maske und Revolution

Und mit dem verspielten Vermögen der Tante sind auch die menschlichen Beziehungen dahin: Alexej (phänomenal Alexander Scheer) entdeckt, dass seine Leidenschaft für das Spiel noch größer ist als für die Nichte des Generals Polina (Kathrin Angerer), dieser wiederum stirbt halb wahnsinnig an gebrochenem Herzen.

Die Botschaft von Castorfs wüster Collage ist wie der Satz, der im Stück variiert wird: Die Maske ist der Tod der Revolution oder die Revolution ist die Maske des Todes oder vielleicht ist die Revolution der Tod der Maske oder ist der Tod die Maske der Revolution?

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