Verändernde Sicht auf GAST UND GASTGEBER

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Der Philosoph Jacques Derrida sprach von der "unbedingten Gastfreundschaft". Damit setzte er nicht rechtliche Regelungen außer Kraft, sondern hinterfragte deren Gründung.

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Der Philosoph Jacques Derrida sprach von der "unbedingten Gastfreundschaft". Damit setzte er nicht rechtliche Regelungen außer Kraft, sondern hinterfragte deren Gründung.

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Gibt es eine "universale Gastfreundschaft"? Kann es sie geben? Und wenn, wer gibt sie? Die Ausstellung "Universal Hospitality", die zur Zeit in der Alten Post in Wien zu sehen ist, greift auf, was Jacques Derrida die "unbedingte Gastfreundschaft" genannt hat. Derrida setzt diese absolute, bedingungslose Gastfreundschaft der üblichen, rechtlich geregelten Gastfreundschaft gegenüber. Könnte diese Denkfigur den gegenwärtigen politischen Diskurs deuten helfen und erweitern?

Die klassische Gastfreundschaft geht von einem Souverän aus, der als Gastgeber die Ordnung seines Hauses (bzw. seines Territoriums) vorgibt und diese auch nach dem Eintreffen des Gastes weiter beherrscht. Diese Gastfreundschaft ist rechtlich geregelt und schlägt sich beispielsweise auf unterschiedliche Weise nieder in nationalen Verfassungen und in transnationalen, allgemeinen Rechten, etwa in der UN-Menschenrechtscharta von 1948 oder der Europäischen Menschenrechtskonvention von 1950. Dieser juridisch geregelte Diskurs über die Gastfreundschaft geht auf die griechisch-lateinische Tradition zurück, die das Denken der Aufklärung beeinflusst hat und zur Declaration of Rights von 1776 und zur Erklärung der Menschen-und Bürgerrechte der französischen Nationalversammlung von 1789 geführt hat.

Nicht einzufordern

Die unbedingte Gastfreundschaft bricht nach Derrida mit solchen rechtlichen Regelungen, was aber keineswegs deren Außerkraftsetzen meint, sondern vielmehr deren Gründung hinterfragt und ihr so etwas wie eine gerechte Geste hinzufügt. Sie wird mitunter auf die jüdische Tradition zurückgeführt, die nach Michel Foucault dem Souverän des griechischen Modells den Hirten entgegensetzt. Einerseits steht das unbedingte Gesetz der Gastfreundschaft als ein gesetzloses Gesetz über den Gesetzen bzw. außerhalb der Gesetze, andererseits bedarf es dieser Gesetze und erfordert sie konstitutiv. Die unbedingte Gastfreundschaft lässt sich darum auch nicht einfordern oder vorschreiben, sonst wäre sie nicht mehr unbedingt.

"Das Gesetz der Gastfreundschaft, das formale Gesetz, das das allgemeine Konzept der Gastfreundschaft regiert, erscheint als paradoxes, pervertierbares oder pervertierendes Gesetz", so formuliert es Derrida. "Es scheint nämlich zu bestimmen, dass die absolute Gastfreundschaft mit dem Gesetz der Gastfreundschaft als Recht oder Pflicht, mit dem Gastfreundschafts-'Pakt', brechen muss. Mit anderen Worten, die absolute Gastfreundschaft erfordert, dass ich mein Zuhause öffne und nicht nur dem Fremden (der über einen Familiennamen, den sozialen Status eines Fremden usw. verfügt), sondern auch dem unbekannten, anonymen absolut Anderen (eine) Statt gebe, dass ich ihn kommen lasse, ihn ankommen und an dem Ort, den ich ihm anbiete, Statt haben lasse, ohne von ihm eine Gegenseitigkeit zu verlangen (den Eintritt in einen Pakt) oder ihn nach seinem Namen zu fragen."

Das ist nun nicht als Handlungsanleitung für die eigene Umgebung oder für die politisch Handelnden misszuverstehen, sondern es seziert zunächst einfach nur den verbreiteten Begriff der Gastfreundschaft.

Denn die "Universal Hospitality" ist bedingungslos, eben unbedingt gemeint, und darin ist sie eine Denkfigur (der Dekonstruktion), d.h. ein denkerischer Vorgriff auf die unmögliche Ermöglichung von Gastfreundschaft. "Wir wissen nicht, was Gastfreundschaft ist", sagt Derrida und meint damit: unbedingte Gastfreundschaft richtet sich jenseits des Wissens auf den Anderen als völlig Fremden, als Unbekannten. Sie kann kein Gegenstand von Wissen sein, sondern gehört der Verpflichtung an, einem Gesetz der Gastfreundschaft, das widersprüchlich oder paradox ist, insofern der Gastgeber zuhause der Gast des anderen wird. Und schließlich wissen wir nicht, was Gastfreundschaft ist, weil sie erst noch im Kommen ist: Wir wissen "noch nicht", wer oder was kommen wird und was die Gastfreundschaft verheißt.

In der klassischen Gastfreundschaft setzt der Souverän eine Symmetrie zwischen Gast und Gastgeber. Er tritt Gästen und Fremden gegenüber, indem er den Fremden (xénos, hostis, hospes) durch einen Pakt oder Vertrag assimiliert, d. h. gleichmacht. Dagegen setzt die unbedingte Gastfreundschaft bei der absoluten Fremdheit zwischen Gast und Gastgeber an: Erst im Ereignis der Gastfreundschaft wandelt sich diese absolute Fremdheit, indem sich der Gastgeber dem Gast bedingungslos ausliefert. Die Identitäten beider stehen dabei nicht von vorneherein fest, sind nicht geregelt wie bei der klassischen Gastfreundschaft, sondern das Ereignis der Gastfreundschaft bewirkt, dass Identitäten verändert und entgrenzt werden.

Diese Überlegungen betreffen die gegenwärtige Diskussion und damit die Art und Weise, mit Grenzen (diskursiven, sprachlichen, territorialen) umzugehen. Die Diskussion spannt sich zwischen zwei entgegengesetzten Polen aus und ist von diesen mehr oder weniger gerahmt. Auf der einen Seite findet sich eine Position, die Grenzen als naturgegeben setzt. Sie bindet Werte und Identität an die Nation (welche auch immer) oder das Volk (welches auch immer). Von ihr bzw. ihm aus leitet sie Werte und Identität quasinatürlich ab und sie gesteht diese im Vollsinn auch nur den Eigenen zu. Dies wäre die essenzielle Position beispielsweise eines ethnischen Nationalismus. Auf der anderen Seite steht eine Position, die Grenzen verhandelt. Sie denkt Werte universal, ausgehend von Begriffen wie Würde und Unantastbarkeit des menschlichen Lebens. Dies wäre die relationierende Position beispielsweise einer Verfassung, die einen formalen Rahmen vorgibt. Zunehmend stehen sich diese Pole -nicht nur in Europa -unversöhnlich gegenüber.

Konstrukt einer "reinen" Identität

Doch was heißt in diesem Zusammenhang Europa? Meint es wirtschaftliche Errungenschaften, ein Territorium, eine wesensmäßige Zuschreibung, wie es die Fiktion einer Nation wäre? Schließlich ist doch das Leben, das Europa einem gegenwärtig bietet, durch die Ausbeutung von anderen ermöglicht worden -worauf schon Immanuel Kant in "Zum ewigen Frieden" hinwies - und wird mittlerweile, in der neoliberalen Logik der Leistungsgesellschaft gesagt, durch die Ausbeutung des eigenen Selbst ermöglicht. Statt diesen Zwängen auf den Grund zu gehen, etwa die kollektiven, populistischen Bewegungen auch als Reaktion auf einen individualisierenden, den Einzelnen entbettenden Kapitalismus zu lesen, was äußerst komplex wäre, findet sich ein schnellerer Zeitvertreib, nämlich folgende Abkürzung: Die Fremden werden zur Gefahr oder gar zum Sündenbock deklariert.

Was dann mit der eigenen Identität nicht übereinstimmt, wird weggeätzt, als handele es sich dabei um das Erstellen einer Lithographie. Dieses Konstrukt einer "reinen" Identität ist aber immer narrativ erfunden mittels Gründungserzählungen. Die geschürten Verlust-oder Entfremdungsängste hängen damit zusammen und stabilisieren die Erfindung. Dabei war und ist historisch besehen Europa nun einmal ein Palimpsest von Kulturen. Oder frei nach Lessings "Ringparabel" gesagt: Der Urtext "vermutlich ging verloren". Und Lessing schiebt eine nicht-essenzielle, relationierende Aufgabe im Modus eines "Noch nicht" hinterher: "es eifre jeder seiner unbestochnen von Vorurteilen freien Liebe nach!"

Geboten wäre eine Vermittlung von Identitäten jenseits von ethnischen Nationalismen und beliebigem Multikulturalismus, die es wagt, Differenzen zum Thema zu machen und "von Vorurteilen frei" ein Anderer zu werden, sich also als Gastgeber und Gast zugleich zu sehen. Hier würden Bedingungen, keineswegs alle, aufgegeben, und es könnte etwas Unbedingtes beginnen.

Der Autor ist Professor für Pastoraltheologie an der Universität Bonn

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