Walisische ABGRÜNDE

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In Jane Gardams Trilogie spiegelt sich die britische Geschichte des 20. Jahrhunderts. Nun ist der erste Band auf Deutsch erhältlich.

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In Jane Gardams Trilogie spiegelt sich die britische Geschichte des 20. Jahrhunderts. Nun ist der erste Band auf Deutsch erhältlich.

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Ein erstaunliches Phänomen: Obwohl die englische Erzählerin Jane Gardam über dreißig Werke veröffentlicht - Kinderbücher, Kurzgeschichten, Romane - und zahlreiche renommierte Preise erhalten hat, darunter gleich zweimal den Whitbread Award, war sie in Deutschland eine Unbekannte. Ein einziger ihrer Romane wurde 1999 vom Lübbe Verlag übersetzt und erregte keinerlei Aufsehen. Nun aber dürfte das zum Glück anders werden, da Hanser Berlin das Werk der 1928 in North Yorkshire geborenen Autorin auszugraben beginnt, und es steht außer Frage, dass diese vorzügliche Erzählerin auch hierzulande viele Leserinnen und Leser finden wird.

Ein vollständiger, erfolgreicher Mann?

Sir Edward Feathers ist der Held in "Ein untadeliger Mann", ein betagter Jurist, der nach dem Zweiten Weltkrieg als Kronanwalt und Richter in Hongkong Reichtum und einen Ruf wie Donnerhall erlangt hat und so gewissermaßen zu einer Legende seiner Zunft wurde. Old Filth (so auch der Titel des bereits 2004 erschienenen Originals) nennen ihn seine Freunde und Bewunderer, ein Akronym, das auf den Scherz "Failed in London Try Hong Kong" zurückgeführt wird. Als Hongkong 1997 an China fällt, zieht sich Filth mit seiner Frau in die südenglische Provinz, nach Dorset zurück. Ab und zu noch reist er nach London, wo sein einst glanzvoller Name allmählich zu verblassen beginnt.

Filths in festen Bahnen verlaufendes Leben ändert sich schlagartig, als seine Frau ihn allein zurücklässt: "Als Betty beim Tulpenpflanzen so plötzlich starb, am Tag nach der Fahrt nach London, wo sie ihre Testamente hatten unterschreiben wollen, hob Filths Erstaunen seine Seele aus seinem Körper hinaus, und er sah nicht nur auf Bettys zusammengesackten Leichnam hinab, sondern auch auf sich selbst, wie er dastand und jeglichen Lebensinhalts beraubt war." Nichts ist mehr wie zuvor, und Filth fängt an darüber nachzudenken, was sein Leben ausgemacht hat und wie es ihm so lange gelungen ist, "der Welt einen ganzen Mann zu präsentieren, einen vollständigen, erfolgreichen Mann".

Jane Gardam versteht es vorzüglich, Gegenwart und Vergangenheit ineinander zu verschränken und die Elemente ihres Romans ganz und gar unaufdringlich zusammenzufügen. Nach und nach entsteht so das Bild eines scheinbar unantastbaren Gentlemans, der die Abgründe seiner Biografie stets geschickt kaschierte und sich erst als alter, verlassener Mann den Schrecken der Vergangenheit stellt. Seine Konfrontation mit dem Gestern wird dadurch vorangetrieben, dass ein ihm verhasster Kollege - Terry Veneering (ein Charles Dickens entlehnter Name) - plötzlich sein Nachbar wird. Ganz gegen seinen Willen kommt Filth dem alten Widersacher näher, obwohl sich herausstellt, dass Veneering einst eine Affäre mit Betty hatte. Lange währt dieses kauzige Männerbündnis nicht, denn der Nachbar und Schachpartner unternimmt eine in Filths Augen völlig sinnlose Kreuzfahrt und stirbt an Bord.

Von Britisch-Indien nach Großbritannien

In Filths Vita, die Gardam 2009 und 2013 mit den sicher bald auch auf Deutsch vorliegenden Bänden "The Man in the Wooden Hat" und "Last Friends" zu einer Trilogie ausgeweitet hat, spiegelt sich zugleich die britische Geschichte des 20. Jahrhunderts. Denn Filth wird im Kolonialgebiet Britisch-Indien geboren und wächst, nachdem seine Mutter im Wochenbett stirbt, auf der malayischen Halbinsel auf. Seinem Vater, der den Schock des Ersten Weltkriegs nie verwindet und sich nicht im Geringsten um seinen Sohn kümmert, missfällt, dass dieser fernab der englischen Kultur groß wird, und er lässt das Kind nach Großbritannien zurückbringen. Eine Entscheidung mit verheerenden Folgen: Zusammen mit seinen entfernten Cousinen Claire und Babs kommt der junge Filth zu einer sadistischen Pflegemutter nach Wales - ein Erzählstrang, der sich, wie Gardam im Nachwort anführt, auf Rudyard Kiplings Lebensgeschichte bezieht. Was sich in deren Haus seinerzeit abgespielt und was Filth zeitlebens verdrängt hat, kommt in "Ein untadeliger Mann" nach und nach ans Tageslicht. Wie Jane Gardam die Wahrheit in kreisenden Bewegungen raffiniert enthüllt, ist ein erzählerisches Meisterstück und könnte in jedem Creative-Writing-Kurs als Modell dienen.

Der auf den ersten Blick so makellose Kronanwalt im Ruhestand hält es nach Bettys Tod nicht lange im beschaulichen Dorset aus. Darum wissend, dass er sich in "harter Arbeit" ein Image aufgebaut hat, macht er sich dennoch auf, in seine Vergangenheit zu reisen und "an sich selbst zu rütteln". Zum Entsetzen seiner Haushaltshilfe, deren Namen er sich partout nicht zu merken vermag, und seines Gärtners beschließt Filth sein "quasi in der Garage festgewachsenes" Automobil zu reaktivieren und eine Fahrt auf den ihm völlig unvertrauten Motorways zu seinen Cousinen zu unternehmen. Diese höchst gefährlichen Expeditionen eines weltfernen Mannes, der den Gepflogenheiten des modernen Straßenverkehrs staunend gegenübersteht, zählen zu den komischsten Episoden des Buches.

Melancholie und Witz gehen in diesem ungemein britischen, von Isabel Bogdan elegant übersetzten Roman eine perfekte Allianz ein. Das ist unterhaltsam und anrührend, das hat literarische Finesse, und überdies begegnen wir en passant sogar einer leibhaftigen Majestät, Queen Mary, mit der der junge Filth in Badminton Castle beim Tee über dies und jenes plaudern darf. "Das ist aber ein sympathischer junger Mann", lautet das Fazit der Königin. Gewiss, doch das ist, wie wir nach der Lektüre des Romans wissen, nur ein Aspekt dieses vielschichtigen, keineswegs untadeligen Mannes.

Ein untadeliger Mann

Roman von Jane Gardam. Aus dem Engl. von Isabel Bogdan Hanser Berlin 2015. 349 Seiten, geb., € 23,60

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